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Das Wuestenhaus

Titel: Das Wuestenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gernot Wolfram
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auspresste. Er schnitt sauber mit dem Messer mehrere Zitronen in einzelne Hälften, legte sie in die Innenfläche der rechten Hand, sodass es aussah, als würden lauter kleine Kükenkörper zusammengepresst, dann pfiff er durch die Zähne und ließ den Saft aus den Fruchthälften in parallel nebeneinanderlaufenden Strahlen auf die zerhackten Tentakel träufeln.

    Ich wollte nichts von dem Oktopus essen und gab vor, mir sei schlecht, aber der Hotelbesitzer ließ den Einwand nicht zu. Er nickte mir lächelnd zu und legte seine Hand ruhig auf meine Schulter.
    Ich schnitt mit dem Messer ein kleines Stück von den roten Tentakeln ab. Es schmeckte, als würde man auf ein Stück angewärmtes, zähes Fleisch beißen; lediglich die Säure der Zitrone, die sich in der Tiefe der Arme ausgebreitet hatte, hinterließ einen süßlich würzigen Geschmack auf der Zunge. Die Gäste lobten das Mahl. Alle wollten mit dem Hotelbesitzer und seinem Bruder anstoßen. Eine ältere Frau lachte mich an. Sie schwenkte ihre Gabel mit einem aufgespießten Stückchen Oktopus in meine Richtung und wippte damit auf und ab, als wollte sie mich ermuntern, Unmengen mehr davon zu verschlingen. Ein anderer Mann lachte ebenfalls, zeigte seine schlechten Zähne und biss gleich in zwei Tentakel auf einmal.
    Ich fragte mich, was mit den Augen des Tieres geschehen war. Lagen sie vielleicht irgendwo, getrennt voneinander, auf der Holzplatte mit dem grünen Lauchfilm, oder waren sie in einem Abfalleimer gelandet, tot und erloschen in einem schäumenden Haufen aus Gemüseresten versunken?
    Ich gab vor, eine Zigarette rauchen zu wollen, und ging in die Küche, um mir die Augen anzusehen - mit der insgeheimen Erwartung, in ihnen einen Abglanz ihres vergangenen Meereslebens zu entdecken. Ich fand sie in einer kleinen Schale, zwei gallertartige Reste, die kaum noch als Augen zu erkennen waren. Ich setzte mich an den Küchentisch, betrachtete die Schale und die zwei klebrigen Kugeln auf dem grün mäandernden Schalenmuster, das an die Zweige von Olivenbäumen erinnerte. Wie aufgeblasene Froschleiber verdämmerten sie
dort, umgeben von einem wässrigrötlichen Sud. Ich dachte daran, dass diese toten Augen einmal in die Tiefe des Meeres geblickt hatten, dass sie, hätten sie zu einem menschlichen Wesen gehört, Berichte über das graue, dunstige Nichts dieser Weiten hätten abgeben können, über Riffe, Sandbänke, Muschelberge, gelb- und rotschuppige Fische und über seltene, von weichen Strömungen bewegte Pflanzen. Und zu der Traurigkeit des Anblicks kam die seltsame Einsicht, dass hinter den Augen wohl niemals ein Gedächtnis existiert hatte.
    In dieser Nacht träumte ich in dem Hotel am Meer davon, dass die Tentakel des Oktopus wieder zum Leben erwachten; sie fanden zu einem Körper zurück, zu einem festen, klaren Herzschlag und einem Augenpaar, das ohne Neugierde und Scheu meinen Blick suchte. Und selbst die Bestandteile, die in den Körpern der Gäste verschwunden waren, fügten sich wieder in den ursprünglichen Körper ein, allerdings mit zarten knotenartigen Verwachsungen, die den nun vor mir erscheinenden, rudernden Bewegungen des Tieres etwas Künstliches und Willkürliches verliehen.
    Und so wie man nach einem langen Tag am Meer das Auf und Ab der Wellen als Geräusch und Bewegung in sich wiederfinden kann, so berührten die Saugnäpfe, vor- und zurückgreifend, die inneren Glaswände meines Traums, anhaftend für einen Augenblick, dann verschwand das Tier endgültig aus der Welt, selbst aus dem kuriosen Kerker der zufälligen Erinnerung.

7
    Der Hof mit den Bäumen
    Er faltete langsam die Briefseiten mit der Erzählung zusammen und verstaute sie in der Schublade seines Schreibtischs in einer Mappe, in der sich neben Zeitungsartikeln, Fotos und Majas Heft Notizen befanden, die er in der letzten Woche akribisch gesammelt hatte. Auf die Mappe hatte er mit schwarzem Stift in Druckbuchstaben das Wort »Insel« geschrieben.
    Er ging zum Fenster, goss sich frischen Kaffee in seine Tasse und blickte in den Hof hinaus. Die Männer des Transportdienstes standen vor der Restaurantküche und warfen sich gegenseitig Bierbüchsen zu, die sie aus einem Karton holten. Seit der Rückkehr aus Frankreich fiel es ihm schwer, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren. Warum ging ihm bloß die Begegnung mit Maja nicht mehr aus dem Kopf? Warum hatte er ständig das Bedürfnis, sie anzurufen, ihre Stimme zu hören und zu erfahren, wie es ihr ging? Und jetzt noch dieser

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