Das Wuestenhaus
schaffte sie in das leere Wohnzimmer im Erdgeschoss. Ich hatte ihr vorgeschlagen, nach Kehl zu fahren, aber sie hatte mich förmlich angebettelt, dass wir diese letzte Nacht noch in dem Haus verbrachten.
Ich konnte nicht schlafen.
Ich ging zurück ins Arbeitszimmer meines Bruders, setzte mich an den Schreibtisch und tat etwas, was ich all die Jahre zuvor unterlassen hatte. Ich brach die obere Schublade des Schränkchens neben dem Schreibtisch auf; es kostete mich einige Mühe, mit der Schere das Schloss zu knacken, denn es war eine feste Verriegelung eingebaut. Ich wusste nicht mal mehr, wo der Schlüssel abgeblieben war. Dies war das einzige Fach, das ich nach dem Vorfall nie mehr angerührt hatte. Einige der Papiere, Notizbücher und Andenken, die man uns damals von der Insel nachgeschickt hatte, waren hier eingeschlossen. Maja wollte diese Dinge nie lesen oder sehen. Ich wollte nicht in den Privatsachen meines Bruders schnüffeln. Aber nun, da Maja das Zimmer in gewissem Sinne freigegeben hatte, glaubte ich, es sei an der Zeit, diese letzte Barriere einzureißen.
Neben einem mit einem Bindfaden verschnürten Bündel mit Unterlagen aus seiner Schule, die er wohl mit in den Urlaub genommen hatte, und einem kaputten Taschenrechner lag eine schwarze Mappe, auf der das Wort »Neues« stand, daneben die Jahreszahl des Anschlags. In der Mappe befanden sich handschriftliche
Manuskripte, einige Postkarten von der Insel, darunter Bilder von Moscheen und Kamelen, Eintrittskarten von einem Museum und eine Rechnung aus dem Hotel. Ich las einige der Texte in der Mappe, ohne dass ich sonderlich gebannt war. Ich kannte ja seine Kurzgeschichten, die er manchmal in einem kleinen Blatt in Freiburg veröffentlichte. Er schrieb so anders, als er redete - zumindest mit mir.
Eine kleine Erzählung hat mich jedoch gefesselt, weil ich der Meinung war, in ihr seine wirkliche Stimme zu hören. Die Stimme des Jungen, mit dem ich aufgewachsen war, die Stimme des neugierigen, schüchternen, manchmal auch ängstlichen Knaben, der noch nicht das Staunen verlernt hatte. Ich lege sie Ihnen bei.
Es ist jetzt sehr spät geworden, und ich fürchte, Sie werden das, was ich geschrieben habe, vielleicht als aufdringlich empfinden, als Darstellung von Dingen, die im Grunde nichts mit Ihnen zu tun haben. Es ist Ihr gutes Recht, diesen Brief zu zerreißen und schnellstmöglich aus Ihrem Gedächtnis zu streichen.
Waren Sie in Paris?
Vielleicht habe ich kein Recht, danach zu fragen. Ich möchte nur noch einmal meine Bitte wiederholen: Suchen Sie keinen Kontakt zu Maja. Reagieren Sie nicht, wenn sie sich meldet. Wir müssen das, was passiert ist, vergessen. Es ist nicht zu durchdringen, für niemanden.
6
Die Begegnung mit dem Oktopus
Der Oktopus hatte große dunkle Glupschaugen, die sich inmitten seines Körpers wie aus einem rieselnden Sandhügel erhoben. Diese Augen beobachteten alles, was um sie herum vorging, mit gierigem, nervösem Staunen. Und als ob das Tier das Kommende erahnte, hielt es den Blick auf die über das Gitter gebeugten Köpfe gerichtet. Die langen schweren Tentakel des Tieres schwangen und kreisten in dem Bassin unruhig durcheinander und rührten das Wasser auf. Hin und wieder schlang sich ein Arm tastend durch die Zwischenräume des Gitters, das über dem Bassin lag, und rutschte dann langsam ab, als seien die Gitterstäbe glitschig wie die Haut eines Fisches. Die Augen des Oktopus wirkten, als gehörten sie zu einem geheimnisvollen Gesicht, das irgendwohin verschwunden war und nur die Augen zurückgelassen hatte, verbunden mit der unförmigen, elastischen Masse eines undefinierbaren Körpers. Der Bruder des Hotelbesitzers schnalzte mit der Zunge. Durch allerlei Handzeichen gab er mir zu verstehen, was für ein Leckerbissen dieses Tier sei. Der Hotelbesitzer erklärte, dass man höllisch aufpassen müsse bei diesen Wesen - sie könnten selbst sehr sichere Behältnisse innerhalb kürzester Zeit überwinden, und es
gebe keinen Restaurantbesitzer auf der Insel, dem nicht schon mal ein Oktopus entwischt sei.
Das Bassin befand sich in der Nähe der Terrasse. Zweimal im Jahr brachte der Bruder aus der Stadt einen fangfrischen Oktopus mit. Ich hatte noch nie zuvor solch ein großes Exemplar gesehen. Als einer der Tentakel wieder nach dem Gitter griff, versuchte ich ihn zu berühren. Erst beim dritten Mal gelang es mir, für einen kurzen Moment die feuchte Spitze eines der Greifarme anzufassen. Es steckte in ihnen so viel Lebendigkeit
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