Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Wuestenhaus

Titel: Das Wuestenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gernot Wolfram
Vom Netzwerk:
miteinander, dennoch hatte er den Eindruck, dass es ein sonderbares Einverständnis zwischen ihnen gab, etwas, das nur sie beide miteinander teilen konnten, jenseits aller Logik und vernünftiger Erklärungen. Einmal zeigte Maja ihm ein Geschäft, in dem Kleider eines Designers ausgestellt waren, schmale Sommerkleider mit Strassbesatz und lange, frackähnliche Anzüge mit eckig zugeschnittenen Kragenaufschlägen. »Sind diese Kleider nicht schön?«, sagte sie, und er beobachtete die Widerspiegelung ihrer beiden Körper in den Fensterscheiben des Geschäfts.
    Als sie am Gare du Nord angekommen waren, war der Himmel über dem Bahnhofsgebäude glasklar, ein nüchternes, weites Strahlen, das die Augen blendete. Er fragte, ob sie mit ihm etwas essen gehen wolle.
    »Ich muss zurück ins Hotel. Mein Onkel wartet auf mich.«
    »Ich kann mir ein paar Tage freinehmen und nach Freiburg kommen.«
    »Es macht keinen Sinn, wenn wir uns wiedersehen.«
    »Maja, verschwinde jetzt nicht einfach wieder. Komm endlich in der Wirklichkeit an.«
    »In welcher denn …? Ich muss wirklich gehen. Bernhard hat schon mehrmals angerufen.«

    Dann war sie schnell in eine Seitenstraße eingebogen, wobei sie sich noch einmal umdrehte und ihm kurz zuwinkte.
     
    Jemand klopfte an die Tür. Ein Kollege aus der Sportredaktion, der fragte, ob er zu der Nachmittagskonferenz hinüberkomme. Die anderen würden schon warten. Irgendetwas liege in der Luft.
    »Ich komme gleich.«
    Er nahm sein Jackett und verschloss die Fenster.
    Er lächelte, als er sah, wie draußen im Hof der Hund des Pförtners um das Glashäuschen herumtrottete. Als ihm Maria auf dem Gang das Papier mit den Stichpunkten für die Sitzung überreichen wollte, nickte er kurz, nahm es und steckte es ungelesen in die Innentasche seines Jacketts.
    Er schlenderte über den Hof in das Nebengebäude, in dem die Konferenz stattfand. Er hielt das Gesicht in die Sonne. Ein noch versteckter, zarter Geruch nach Herbst lag in der Luft. Er dachte an die Geschichte von Majas Vater, an den Oktopus und dessen Tentakelbewegungen in dem Plastikeimer. Er fragte sich, ob er jemals einen Oktopus gesehen hatte, der in Freiheit lebte. Wie weit diese Tiere wohl ihre Fangarme ausstrecken konnten? Ausgreifend und voller Kraft, stellte er sich vor, mussten diese Bewegungen im Meer sein, in den Weiten und unbegrenzten Tiefen eines südlichen Gewässers. Eigentlich waren es fröhliche Tiere. Er musste aufhören, sich mit dieser Familie zu beschäftigen, mit diesem
Inselhaus und seinen schwarzen Kraterlöchern, mit einer Geschichte, die im Grunde nichts mit ihm zu tun hatte. Er musste seinen Kopf wieder frei bekommen!
    Ein leises Murmeln war im Konferenzraum zu hören. Er setzte sich an seinen Platz und malte mit seinem Stift blaue Kreise auf den vor ihm liegenden Papierblock. Plötzlich wurde es still.
    Er sah, wie der Chefredakteur, ein älterer Mann, der immer noch Hosenträger über seinen weißen Hemden trug, aufstand und sagte, es sei vorhin eine Eilmeldung eingetroffen: Einer der ehemaligen Auslandskorrespondenten der Zeitung sei bei einem Anschlag auf eine Fotografieausstellung in der libanesischen Stadt Tripoli ums Leben gekommen. Sein Arbeitgeber, eine britische Nachrichtenagentur, habe es vor einer halben Stunde offiziell gemeldet.
    Kaum einer der anwesenden Kollegen kannte den Mann noch persönlich.
    Er selbst hatte vor Jahren einige Male mit ihm zusammengearbeitet, als die Redaktion noch in dem alten Gebäude in der Mohrenstraße untergebracht gewesen war: ein stiller, freundlicher Mittvierziger mit schütterem Haar, der sich, in seinem engen Bürozimmer sitzend, beim Reden unentwegt an seinen großen Ohren gezupft hatte. Sein Tisch war ständig mit neuen Büchern übersät gewesen, in die er lauter gelbe Zettel geklebt hatte. »In Ihrem Alter habe ich auch noch keine Merkzettel gebraucht«, hatte er einmal entschuldigend gesagt, als beim Eintreten sein
Blick auf dieses Chaos gefallen war. Dabei hatte der Korrespondent ihm jedes Mal, wenn sie sich sahen, enthusiastisch die Frage gestellt, woran er gerade arbeite.
    Während der Chefredakteur kurz an den toten Kollegen erinnerte und dann zur Tagesordnung überging, sah er durch das Fenster hinüber zu den Fensterscheiben seines Büros und dachte: Wer hat dich zu dieser Ausstellung geschickt? Von wem kam bei dir die Empfehlung? Eine Pressemeldung, ein mündlich weitergegebener Hinweis? Oder hat es jemanden gegeben, einen flüchtigen Bekannten, der dich

Weitere Kostenlose Bücher