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Das Wüten der ganzen Welt

Das Wüten der ganzen Welt

Titel: Das Wüten der ganzen Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maarten 't Hart
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Beziehungen gehabt haben, entweder zu den Deutschen oder... und wurden nicht alle Niederländer, die im Krieg ein jüdisches Geschäft übernommen haben, nach dem Krieg wieder rausgesetzt? Warum dann nicht auch dein Vater und deine Mutter?«
    »Meine Mutter sagte, als du schon auf dem Weg nach oben warst, daß sie noch nicht alles erzählt hätten. Ich glaube, daß das noch kommen sollte. Ich habe oft gedacht, daß sie im Krieg Verräter waren, weil die Leute im Hoofd nie freundlich zu uns gewesen sind, aber das stimmt offenbar nicht.« »Wie konnten sie dann den Laden übernehmen?« »Ja, das weiß ich nicht, hör ich wahrscheinlich noch.« 

Psalm 103
     
    Meine Eltern besuchten mich an einem Dienstag im November. Am darauffolgenden Donnerstagabend drosselte mein Vater, wie ich annehme bei völliger Windstille und nebligem Wetter, den Ofen, den sie, sparsam wie sie nun einmal waren, immer mit billiger Eierkohle heizten. Ebendiese Sparsamkeit war es auch, weshalb sie seit Jahren keinen Schornsteinfeger mehr hatten kommen lassen.
    Am Montagnachmittag wurde erst mein Vater, danach meine Mutter in einem Grab dritter Klasse beerdigt. Pastor Dercksen sprach über Psalm 103: »Des Menschen Tage sind wie das Gras; er blüht wie die Blume des Feldes; wenn der Wind darüber geht, so ist sie dahin, und ihre Stätte weiß nichts mehr von ihr.« Die Bibelstelle erschien mir wenig passend. Gerade Windstille hatte in diesem Fall die Kohlenmonoxydvergiftung verursacht.
    Mein Vater war achtundsechzig Jahre alt, meine Mutter vier Jahre jünger. Sie waren an jenem Donnerstagabend friedlich eingeschlafen. Varekamp stellte am nächsten Mittag erstaunt fest, daß die Übergardinen noch immer zugezogen waren. Mit einem Dietrich kam er ins Haus. Nach der Beerdigung sagte er zu mir: »Ich komm immer noch nicht darüber weg, ich komm immer noch nicht darüber weg, es waren so vortreffliche Leute, solche Menschen mußt du mit der Laterne suchen.« Ausführlich beschrieb er, wie er sie aufgefunden hatte, und wiederholte es stolz allen gegenüber, die mir nach der Beerdigung in meinem Elternhaus kondolierten. Sozusagen jeder, der im Hoofd »etwas mehr als nur geradeaus war«, wie es da genannt wurde, kam »mal eben vorbei«, nicht nur, um mir die Hand zu drücken, sondern auch, um mit den Nachbarn noch ein wenig zu reden. Varekamp und seine Frau schenkten Kaffee aus und am späteren Nachmittag auch Stärkeres. Es überraschte mich, daß meine Eltern so etwas im Haus gehabt hatten, allerdings war der junge Genever nicht mehr ganz so jung.
    Noch gut erinnere ich mich, daß Varekamp Schrotthändler Cornelis fragte: »Willst du auch ein Gläschen?« Worauf der Schrotthändler antwortete: »Ja, gib man her, jetzt bin ich sowieso da, und morgen muß ich extra dafür kommen.«
    Am Ende des Nachmittags saßen mindestens dreißig Menschen, die laut redeten und oft schallend lachten, im Wohnzimmer, in dem gerade erst mein Vater und meine Mutter eingeschlafen waren. Zu ihren Lebzeiten hatten die Nachbarn meine Eltern »schief angesehen«. Durch ihr gemeinsames Sterben war nun, um in der Sprache vom Hoofd zu bleiben, »nicht nur alles ordentlich abgewickelt, sondern auch vergeben und vergessen«.
    Um sechs Uhr hatte sich der leicht angeschlagene Kondolenzbesuch verzogen. Mutterseelenallein saß ich in dem totenstillen Haus. Ich hielt es nicht aus, ging auf die Straße, schlenderte stundenlang durchs Städtchen, kam um halb zehn wieder nach Hause und schaute dann die Papiere durch, die mein Vater in der obersten Schublade des gewaltigen Büfetts aufbewahrt hatte. Ich fand darin mehrere Sparbücher. Offensichtlich hatte mein Vater es zu riskant gefunden, sein Geld nur einer Bank anzuvertrauen. Er hatte es auf fünf Banken verteilt. Außerdem hatte er auf einem Girokonto noch ein Vermögen stehen. In dem Augenblick begriff ich noch nicht, daß ich all das Geld erben würde. Als einziges wurde mir an jenem späten Abend klar, daß mein Vater vor Jahren auf eines der Sparbücher einen großen Betrag hatte gutschreiben lassen, den er später nie mehr angerührt hatte. Dieser Betrag war, so stellte ich fest, als ich das Datum der Gutschrift noch einmal genau ansah, das Geld, das er für den Blüthner kassiert hatte. Es erscheint vielleicht unbegreiflich, daß ich darüber damals rasend wütend wurde, aber ich war den ganzen Tag über schon wütend gewesen, wütend auf die Nachbarn und in Wirklichkeit auch wütend auf meine Eltern, daß sie so unvermutet

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