Das Wüten der ganzen Welt
gestorben waren. Um ehrlich zu sein: Als sie so überraschend starben, war ich nicht tieftraurig oder von Schmerz übermannt. Ich war von einer tiefen, heftigen Wut erfüllt. Wütend war ich, weil ich mich auf einmal vor die Aufgabe gestellt sah, den elterlichen Haushalt aufzulösen, wütend war ich, weil auf einmal so viel geregelt werden mußte und ich überhaupt nicht wußte, wie ich das anpacken sollte. Es war so ein Gefühl wie: Verdammt, nun laßt ihr mich auf einmal mit allem allein.
Außerdem war ich bestürzt, daß so etwas vollkommen unerwartet passieren konnte. Außerdem schien es, als hätten sie es selbst vorausgeahnt und wären daher zwei Tage vor ihrem Tod gleichsam als Abschied bei mir zu Besuch gewesen.
Im Hafenkontor von Notar Joosse sah ich einen Tag darauf gemeinsam mit dem Notar die Papiere noch einmal durch. Joosse hatte außerdem einen Schuldschein in Verwahrung. Noch während des Krieges, kurz nachdem sie ins Hoofd gezogen waren, hatte mein Vater Arend Vroombout einen großen Betrag geliehen. Viel später hatte er Vroombout nochmals einen ansehnlichen Betrag geliehen.
»Soweit man das nachprüfen kann, ist das alles nie zurückgezahlt worden«, sagte der Notar, »aber Vroombout lebt nicht mehr, demzufolge besteht eine Forderung an seine Erben, Sie müßten...«
»Nein, nein«, sagte ich, »das lassen wir so.«
»Wie merkwürdig, daß Ihr Vater offenbar nie bei Vroombout darauf gedrungen hat, daß er das Geld zurückzahlt«, sagte der Notar.
»Vielleicht war es ein Darlehen, bei dem beide Parteien, ohne daß es jemals ausgesprochen wurde, davon ausgingen, daß es in Wirklichkeit eine Schenkung war«, sagte ich.
»So wird es wohl sein«, sagte Notar Joosse.
Erst nach dem Besuch beim Notar begriff ich allmählich, daß ich zwar nicht steinreich, so doch vermögend genannt werden konnte. Was sollte ich mit dem Geld anfangen? Weiter studieren? Oder würde ich jetzt tun können, was ich immer gewollt hatte: an das Konservatorium gehen? Dann würde ich sofort zum Militärdienst eingezogen werden. Es war wohl das Vernünftigste, einfach weiter zu studieren. Solange ich studierte, brauchte ich nicht zum Militär, und ach, dieses Studium... Nun, da ich reich war, konnte ich so lange damit zubringen, wie ich wollte. Meere an Zeit blieben übrig für das große Wunder des Lebens. Ich hatte Geld genug, nun auch bei jemand anderem Klavierunterricht zu nehmen. Außerdem konnte ich jetzt endlich meiner Klavierlehrerin meine inzwischen ziemlich hohen Schulden bezahlen.
Dabei fiel mir wieder ein, daß Vroombout meinem Vater Geld schuldig war. Wie eigenartig, daß mein Vater Vroombout Geld geliehen hatte! Mein Vater und Geld verleihen - das war doch vollkommen undenkbar? Und nie war etwas zurückgezahlt worden! Das machte alles noch rätselhafter.
Als das Wohn- und Lagerhaus in der President Steynstraat verkauft war und alles, was mein Vater gespart hatte, nach Abzug von etwas Erbschaftssteuer an mich überwiesen worden war, setzte ich mich eines Abends in den Zug und fuhr in die Stadt meiner Jugend, um die Schulden bei meiner Klavierlehrerin zu bezahlen. Auf dem Weg zu ihrer Wohnung brauchte ich nicht durch die President Steynstraat zu gehen, aber natürlich ging ich durchs Hoofdviertel, und erst da trauerte ich um meine Eltern. Ich lief dort entlang, es nieselte, von den gelben Straßenlaternen tropfte es, das Hafenwasser roch nach Teer und Öl, und die salzige Luft vom Waterweg drang mir schon beim Bahnübergang in die Nase. Anders als noch vor zehn Jahren war dank jenes Apparats, der alle Wohnzimmer erobert hatte, keine Sterbensseele mehr auf der Straße. Schwarzweiß sah man den Schirm in den Wohnungen flackern. An einem Fenster nach dem andern vorbeigehend, hätte ich vielleicht sogar das Programm verfolgen können, aber ich wollte herausfinden, was in mir selbst vorging. In all den Jahren meiner Jugend hatte es mich so schmerzlich danach verlangt, dort wegzukommen, hatte ich nur daran gedacht, diese Sprache nicht mehr hören zu müssen, war ich sozusagen innerlich schon emigriert, aber jetzt, nachdem die Emigration vollzogen war, schien meine Seele wie aus Reispapier zu sein. Genauso schmerzlich, wie ich mich früher danach gesehnt hatte, fortzukommen, sehnte ich mich jetzt danach, meine Eltern, und sei es auch nur für einen Augenblick, wiedersehen zu dürfen. Und es war gerade so, als brauchte ich nur in die President Steynstraat einzubiegen und an meinem Elternhaus zu klingeln, und meine
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