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Das Wüten der ganzen Welt

Das Wüten der ganzen Welt

Titel: Das Wüten der ganzen Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maarten 't Hart
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natürlich, daher hat Minderhout auch etwas damit zu tun, natürlich, denn er hat alles geregelt, er hat die Verabredung mit Schiffer Vroombout getroffen, jetzt verstehe ich. Nun ja, Sie und die Edersheims und Minderhout wollten an dem Samstagnachmittag mit Vroombout über die angeblichen Schulden sprechen. Vielleicht wollten Sie zu einer Vereinbarung mit ihm kommen. Daraus folgt natürlich, daß sie ganz sicher nicht vorhatten, ihn zu ermorden. Das macht man auch nicht in einer Gruppe... nein, nach den Worten von Vroombouts Mutter leuchtete mir ein, warum Sie alle da waren, und ich war mir auch sofort im klaren, daß Sie nicht alle in den Mord verwickelt sein konnten.«
    Sie wandte sich wieder um, blickte mich an, sagte:
    »Wir hatten in der Tat vor, mit Vroombout über seine Briefe zu sprechen, aber mehr kann ich dir wirklich nicht darüber sagen. It hurts me to talk about it.»
    Sie setzte sich. Wir tranken Tee, wir lauschten der Kantate 104 von Bach. Sie drehte die Platte um, und wir lauschten auch der Kantate 80, der Kantate, in der Bach das Wüten der ganzen Welt heraufbeschwört und es zugleich wieder besänftigt, und als das alles verklungen war, sagte ich, daß ich mich beeilen müßte, um den Halbelfuhrzug noch zu erreichen. Sie kam mit mir bis zum Treppenhaus. Während ich die Treppe hinunterging, fragte sie: »Seh ich dich noch mal?«
    »Bestimmt!« sagte ich, wandte mich um und blickte nach oben. Dabei verlor ich das Gleichgewicht, aber ich konnte mich am Treppengeländer festhalten, schwankte nur etwas hin und her. Voller Mitleid schaute sie mich an, sie sagte: »Du brauchst wirklich keine Angst zu haben, daß der Mann, der Vroombout umgebracht hat, auch noch kommt, um dich zu ermorden, bestimmt, davor brauchst du keine Angst zu haben!«
    »Na, Gott sei Dank«, sagte ich.
    Erst als ich draußen war und mich wieder der hoffnungslose Schmerz überfiel, weil ich nicht zu meinem Elternhaus gehen konnte, wurde mir allmählich klar, was ihre Abschiedsworte bedeuten konnten. Hatte sie das alles, ohne daß sie dazu berechtigt war, nur gesagt, um mich aufzumuntern, zu trösten, mir Mut zu machen? Oder bedeutete das, daß sie wußte, wer der Mörder war, und also auch wußte, daß dieser Mörder oft genug die Gelegenheit gehabt hätte, mich auch später noch zu vernichten, aber es nicht getan hatte? Mußte dann nicht alles neu betrachtet werden, war es dann doch einer von ihnen gewesen? 

Oberstein
     
    Mit dem Vermögen meines Vaters erbte ich auch dessen Sparsamkeit. Es wäre mir wie ein Verbrechen vorgekommen, all das Geld, das er durch seinen Handel mit Lumpen und Altmetall zusammengekratzt hatte, einfach zum Fenster hinauszuwerfen. Solange er lebte, hätte ich ihm das ohne weiteres antun können. Nach seinem Tod war mir das nicht mehr möglich. Daher lebte ich, soweit es ging, von den paar Gulden, die ich mit dem Stimmen von Klavieren verdiente. Nur einen einzigen Luxus erlaubte ich mir: die Anschaffung eines Radios und eines altmodischen Grammophons, das an das Radio angeschlossen werden konnte. Das Grammophon war eins von diesen Plattenmördern, aber das wußten wir damals noch nicht, ebensowenig wie wir wußten, daß wir uns im CD- Zeitalter insgeheim nach den rauschenden Platten, dem gelegentlichen Schaben zurücksehnen würden, nach jenen Platten, die man um so öfter spielte, je mehr man sie liebte. Je stärker sie rauschten, desto größer die Liebe. Am Rauschen konnte man hören, wieviel sie einem wert waren, und darin lag ein Reiz, der heute völlig verlorengegangen ist.
    Abend für Abend hörte ich im zweiten Jahr meines Studiums nach den zermürbenden Praktikumsnachmittagen in meiner ungeheizten Dachkammer Radio. Wenn etwas Besonderes erklang, löschte ich das Licht und legte mich aufs Bett. Dann erleuchtete nur das hellgrüne Auge des Radios mein Zimmer, und durch die Ritzen auf der Rückseite des Radios fielen Lichtstreifen. Übergroß wurden die Ritzen auf die weiße Wand über meinem Bett projiziert, und während ich lauschte, beobachtete ich den Wechsel von dunklen und hellen Streifen. Nicht immer gelang es mir, mich auf das zu konzentrieren, was ich hörte. Oft dachte ich zwischendurch an das Praktikum. Das Physikpraktikum fand an zwei Nachmittagen statt. Bei diesem Praktikum machten alle dieselben Versuche, wobei jeder zu einem anderen Ergebnis kam. So mußten wir unten im Keller und oben auf dem Dachboden des Kamerlingh-Onnes-Laboratoriums den Barometerstand ablesen. Aus dem

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