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Das Wüten der ganzen Welt

Das Wüten der ganzen Welt

Titel: Das Wüten der ganzen Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maarten 't Hart
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Luftdruckunterschied mußten wir die Höhe des Kamerlingh-Onnes-Laboratoriums berechnen. Obwohl jeder in ein- und denselben Keller hinunterstieg und jeder sich über eine enge Treppe und durch eine kleine Luke auf ein- und denselben Dachboden zwängte, fiel das Resultat der Höhe des Gebäudes bei jedem anders aus. Da wir aber in den Praktikumsberichten der vorherigen Jahrgänge gelesen hatten, welches die richtige Höhe des Gebäudes war, mogelten wir bei unseren Zahlen. Und wir mogelten auch, wenn wir die Rußablagerung einer Platte messen oder mit Thermokraft die Temperatur im Innern einer gekochten Kartoffel ermitteln mußten. Es war, als sollten wir bei diesem Praktikum nur eines kennenlernen: Wie betrügen wir uns selbst und die Praktikumsassistenten? Oder auch: Wie lernen wir, korrupt zu sein? Wenn ich jemals Achtung und Ehrfurcht vor der Wissenschaft gehabt habe, dann ist an jenen Nachmittagen ziemlich wenig davon übriggeblieben.
    An den anderen drei Nachmittagen fand ein Praktikum über Pflanzenmorphologie statt, in dem wir so leidenschaftlich Algen, Tang und Schimmelpilze abzeichneten, als ob uns dadurch die Geheimnisse der Herstellung von Heilmitteln offenbart werden könnten. Nach diesen drei Nachmittagen gelang es mir abends leichter, mich auf das zu konzentrieren, was aus dem hellgrünen Auge erklang. Oft jedoch wurde ich von Spukbildern aus meiner Kindheit gequält; oft dachte ich dann an das, was meine Klavierlehrerin beim Abschied zu mir gesagt hatte und womit sie mich von diesen Spukbildern hatte befreien wollen. Befreit hatte sie mich jedoch nicht; im Gegenteil, wollte ich endlich zur Ruhe kommen, so schien es mir mehr denn je notwendig, daß auch ich wußte, wer Vroombout umgebracht hatte.
    Beinahe jeden Abend, wenn ich dort lag und lauschte, kam meine Zimmerwirtin nach oben, um mir eine Tasse kochendheiße Schokolade zu bringen. In all den Jahren, in denen ich dort gewohnt habe, fühlte sie sich schuldig, weil sie mir ein Zimmer vermietet hatte, das ich nicht heizen konnte und durfte. Mir machte es nichts aus, daß es oft sehr kalt in meinem Zimmer war, aber sie litt darunter, brachte mir daher immer etwas Warmes und starrte mich dann von der offenen Tür aus an mit ihren Augen hinter Brillengläsern, dick wie Flaschenglas.
    »Ist Ihnen nicht schrecklich kalt?«
    »Nein, überhaupt nicht, ich habe einen dicken Pullover an.«
    »Daß Sie das aushallen! Wenn es gar nicht mehr geht, kommen Sie ruhig mal nach unten, damit Sie sich am Ofen aufwärmen!«
    »Oh, aber es geht wirklich gut.«
    »Sie sitzen hier ganz allein... Sie bekommen nie Besuch von Freunden... das liegt natürlich daran, weil es hier so kalt ist... ich finde es, ich wollte, daß ich... ich weiß nicht, was ich tun soll.«
    »Sie brauchen nichts zu tun, wirklich nicht.«
    »Sie sitzen hier auch noch im Dunkeln... das ist doch nicht normal... und keine Freunde...«
    »Im Dunkeln kann ich am besten Musik hören, Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen.«
    »Sie verkommen!«
    »Nicht im geringsten.«
    An ihrem Schritt auf der Treppe konnte ich hören, wie besorgt sie war, und diese Besorgnis tat mir jedesmal wieder gut und gab mir außerdem das beglückende Gefühl, daß ich anders war als all die Studenten, an die sie im Laufe der Jahre Zimmer vermietet hatte. Ich wollte auf keinen Fall ein normaler Student sein; und das war ich auch nicht, selbst als ich durch William, der viel geselliger war als ich, fünf geistesverwandte Kommilitonen kennenlernte, mit denen zusammen ich Platten hören konnte. Wir nannten uns die Prokofjew-Vereinigung. Wir erfuhren, daß die Botschaften Finnlands und Englands und Polens über Schallplattensammlungen verfügten und diese gern verliehen, um die Komponisten ihres Landes bekanntzumachen. Wir liehen die Platten aus und kamen dann einmal alle vierzehn Tage zusammen, um einem ausgeliehenen Sibelius oder Walton oder Szymanowski zu lauschen.
    Grammophonplatten wagte ich übrigens bei der so unerwartet von meinem Vater ererbten Sparsamkeit kaum anzuschaffen. Nur im Ausverkauf erstand ich gelegentlich einige stark herabgesetzte Aufnahmen. Dagegen ging ich, auch wenn kein Ausverkauf war, oft in Schallplattenläden und sah die Ständer mit den Langspielplatten durch. Dabei stieß ich einige Male auch auf Aufnahmen von Aaron Oberstein mit verschiedenen Orchestern. Manchmal enthielt der Text auf den Plattenhüllen eine kurze Biographie von Oberstein, und indem ich die verschiedenen Texte auf den Plattenhüllen

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