Das Wüten der ganzen Welt
weiß ich erst, wenn ich es weiß. Ich meine: Wenn ich weiß, wo ich den Mann schon mal gesehen habe, weiß ich bestimmt auch, warum es mir so wichtig ist, daß ich das Rätsel löse, wo ich ihn schon gesehen habe.«
»Jetzt hast du zweimal das gleiche gesagt. Und ich glaube nicht, daß da was dran ist, meiner Meinung nach ist es dasselbe, wenn dir eine Melodie im Kopf herumgeht und du denkst: Von wem war die denn noch? Dann erscheint dir nichts wichtiger, als dahinterzukommen, wer die Melodie komponiert hat, aber wenn du es dann einmal weißt, denkst du: War das alles, habe ich mich dafür so angestrengt?«
»Ich hätte so gern noch mehr Fotos von Oberstein.«
»Soll ich meinen Flötenlehrer fragen, ob er welche hat? Der hat noch unter Oberstein in der Rotterdamer Philharmonie gespielt.«
Eine Woche später kam er mit zwei dicken Fotoalben. »Sieh dir das an«, sagte er stolz, »mein Flötenlehrer hat aus all den Jahren Rezensionen und Fotomaterial aufbewahrt, du kannst die ganze Karriere von Oberstein bei der Rotterdamer Philharmonie mitverfolgen.« Gemeinsam schauten wir die Alben durch. Wir sahen, wie Oberstein zusehends alterte, wie er geradezu auf das unheilverkündende äußere Erscheinungsbild zuwuchs. Wie viele Fotos ich jedoch auch betrachtete, kein einziges rief in mir die Erinnerung zurück, wo ich Oberstein schon einmal gesehen hatte.
William sagte: »Vielleicht hast du ihn überhaupt noch nicht gesehen. Manchmal hat man solch ein unbegründetes Déjà- vu-Erlebnis. Oder vielleicht kennst du ihn aus einem früheren Leben.«
»Aus einem früheren Leben? Hör doch auf, Reinkarnation, das ist alles Unsinn!«
»Menschen unter Hypnose können sich aber...«
»... an ihr früheres Leben erinnern«, ergänzte ich und fügte hinzu: »Ach, hör auf, das ist alles Betrug. Und auch wenn es kein Betrug wäre: Gesetzt den Fall, es gäbe so etwas wie Reinkarnation, was hast du davon, wenn du dich ohne Hypnose doch an nichts aus einem deiner früheren Leben erinnern kannst?«
»Aber mit Hypnose...«
»Und nach der Hypnose ist alle s wieder weg, und das, wovon du profitieren könntest - daß du nämlich aus den Fehlern, die du in einem früheren Leben gemacht hast, gelernt hättest -, ist nicht der Fall. Wir sind alle wie Esel, die sich erst an einem Stein stoßen müssen, um den zweiten zu vermeiden.«
»Einige Esel haben an einem einzigen Stein nicht genug«, sagte William.
»Um so mehr Grund, nicht an Reinkarnation zu glauben.«
»Nun, ich glaube sehr wohl daran, aber ich habe keine Lust, mit einem so eigensinnigen Skeptiker wie dir weiter darüber zu diskutieren. Leg lieber eine Platte auf!«
»Bruckner?«
»Von mir aus. Vielleicht sagt mir seine Musik ja doch etwas.«
Während Bruckner mein Zimmer füllte, blätterte ich zerstreut in den Alben. Sie enthielten vor allem Rezensionen von Konzerten des Rotterdamer Philharmonischen Orchesters. Fotos waren selten dabei, und daher blätterte ich einfach immer weiter. Von den Texten las ich nur ab und zu einen Satz, und so flogen die ersten Nachkriegsjahre an mir vorbei. Erst bei einem Benefizkonzert für die Opfer der Flutkatastrophe hielt ich im Weiterblättern kurz inne. »Geldbeutel auf, Deiche geschlossen«, murmelte ich. Und ich murmelte auch bei einem Zeitungsausschnitt über ein Benefizkonzert für die Opfer des Ungarischen Aufstands: »Budapest, unser aller Test.« Langsam blätterte ich weiter, war schon im Herbst 1957 angelangt, als ich dachte: Noch mal kurz zurück und nachsehen, was das Orchester eigentlich im Dezember 1956 gespielt hat. Nichts Besonderes, das sah ich ziemlich schnell und blickte auf die Zeitungsausschnitte, las hier und da etwas, sah den Namen Oberstein und las dann aufmerksamer:
»Gestern abend stand Aaron Oberstein, diesmal als Gastdirigent, endlich wieder vor dem Orchester, mit dem er so vertraut ist. Unter seiner beseelten Leitung hörten wir vor der Pause eine brillant gespielte Egmont-Ouvertüre von Beethoven mit strahlenden Holzbläsern und samtenen Streichern. Im Vierten Klavierkonzert von Beethoven wurde die Poesie in filigraner Detailarbeit und melodiöser Tonfärbung sehr schön von dem Solisten Leon Fleisher akzentuiert. Nach der Pause wurde die Italienische von Mendelssohn zu einem Erlebnis, über das noch lange gesprochen werden wird. Oberstein nahm die Musik mit einem großen Bogen und steigerte die Spannung bis zum Äußersten. Nie hat der Rezensent eine schwungvollere Aufführung des dritten Satzes gehört.
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