Das Wüten der ganzen Welt
miteinander kombinierte, erfuhr ich allmählich etwas mehr über ihn. Oft widersprachen sich jedoch die Angaben. Als einziges schien sicher, daß Oberstein 1919 geboren und 1939 aus Deutschland in die Niederlande geflohen war. Nach dem Krieg war er ein paar Jahre lang Konzertmeister der Rotterdamer Philharmonie gewesen. Eines Abends war er für einen kranken Dirigenten eingesprungen. Es zeigte sich, daß er der geborene Dirigent war. Einige Jahre war er als Orchesterleiter zwischen den Niederlanden und England hin und her gependelt. Schließlich war er nach Australien ausgewandert.
Auf einer dieser Plattenhüllen - einer Aufnahme der Sechsten von Bruckner - war sogar ein Foto von Oberstein. Lange stand ich in einem kleinen Laden in der Breestraat und starrte fasziniert auf das äußere Erscheinungsbild des Mannes, der gemeinsam mit seiner Frau auch auf dem Kutter nach England hatte flüchten wollen. Mit der Hülle einer anderen Platte deckte ich seine Stirn ab. Meine rechte Hand hielt ich vor seinen Mund. War das der Mann, der mich in unserem Lagerhaus bedroht hatte? Was ich sah - ein Augenpaar und tiefe Schatten unter den Augen -, erschien mir viel vertrauter, bekannter als das wenige, was ich beim Umdrehen im Lagerhaus nur kurz gesehen hatte. »Damals hatte er vielleicht noch keine Ringe unter den Augen«, flüsterte ich, und ich nahm die andere Plattenhülle und meine Hand weg und schaute das Gesicht im ganzen an. Irgendwann hatte ich das Gesicht schon einmal gesehen, das wußte ich genau, aber wo und wann? Dieser wilde schwarze Bart, woher kannte ich ihn? Und die erhabene, zerfurchte Stirn? Ich ging mit der Platte zu der untersetzten Frau, der Besitzerin des Ladens. »Darf ich daraus ein Stück hören?« fragte ich. »Ja, sicher«, sagte sie, »gehen Sie nur nach oben.« Mit der Platte in der Hand stieg ich die Treppe zum ersten Stock hoch, wo man sich in Räumen, allein mit Musikgeräten ausgestattet, anhören konnte, was man eventuell kaufen wollte. Dort legte ich das Werk eines Komponisten auf, von dem ich nur wenig kannte und der mich daher auch nicht sonderlich interessierte. Während ich zuhörte, blickte ich unaufhörlich auf das Foto auf dem Plattencover. Irgendwann hatte ich das Gesicht schon einmal gesehen, aber wo? War dann doch er der Mörder?
Während ich konzentriert auf das Foto blickte und vergeblich versuchte herauszubekommen, wo ich diesen Mann schon einmal gesehen hatte, wuchs bei mir eine noch größere Empfänglichkeit für die Musik als von Natur aus. Mir war, als würde dort in dem kleinen Raum jener geheimnisvolle, schwer neurotische, in gewisser Hinsicht vielleicht sogar wahnsinnige Anton Bruckner persönlich zu mir sprechen und mir - vor allem in der über alles Lob erhabenen Coda des ersten Satzes - erzählen, daß unter dem Wahn ein vollendet friedliches, glückseliges Gleichgewicht existierte, eine mystische Verbundenheit mit der Harmonie der Sphären, eine beinahe vollkommene Ruhe, ein Vorgeschmack auf den biblischen Frieden, der über alles Vorstellbare hinausgeht. Auch der langsame Satz der Symphonie war eine Offenbarung für mich, und als er zu Ende war, ging ich die Treppe hinunter und zahlte leichten Herzens den vollen Preis für die Platte und nahm sie triumphierend mit nach Hause.
Abends im Dunkeln lauschte ich noch einmal der Sechsten, die mir die Ohren für Bruckner geöffnet hatte, und dachte: Trotz allem gut, daß jener Mord begangen wurde, sonst hätte ich diese Platte nie angeschafft.
Dennoch blieb mir das Gesicht von Aaron Oberstein ein Rätsel. Hatte ich es schon einmal gesehen? Aber wo und wann?
Ich suchte ein Plattengeschäft nach dem anderen ab und versuchte, noch mehr Aufnahmen von Oberstein mit einem Foto von ihm darauf zu finden. Doch leider schien es keine weiteren zu geben, und welche mnemotechnischen Tricks ich auch anwandte: Ich kam nicht dahinter, wo ich das Gesicht schon einmal gesehen hatte.
An einem Abend im Frühjahr kam William bei mir vorbei. Selbstverständlich ließ ich ihn meine größte Entdeckung der letzten Zeit hören: die Sechste von Bruckner. Dabei erzählte ich ihm beiläufig, wie ich dazu gekommen war, die Platte zu kaufen. Gemeinsam blickten wir das rätselhafte Foto an, und er sagte: »Ich habe diesen Mann noch nie gesehen.«
»Ich weiß bestimmt, daß ich ihn irgendwo gesehen habe, wenn ich doch nur wüßte, wo und wann!« »Und dann?«
»Dann weiß ich vielleicht... dann weiß ich vielleicht...«
»Was weißt du dann?«
»Das
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