Das Wüten der ganzen Welt
Ein unvergeßlicher Abend.«
Williams Flötenlehrer hatte das Datum mit einem blauen Stift danebengekritzelt: 22. Dezember 1956. Lange starrte ich darauf und dachte immer nur: Was für ein traditionelles Konzert! Merkwürdig, daß es so lange dauerte, bis ich begriff, daß dies der Tag der Kreuzzugskampagne gewesen war. An dem Tag hatte Oberstein also abends... ach nein, der zweiundzwanzigste war das Datum, an dem der Artikel in der Zeitung gestanden hatte. Das Konzert hatte einen Tag davor stattgefunden. Da erst ging mir auf: Oberstein hatte am einundzwanzigsten ein Konzert in Rotterdam dirigiert, war also am Freitagabend ganz in der Nähe gewesen, hatte vielleicht sogar die Nacht zum Samstag bei den Minderhouts oder den Edersheims verbracht.
Pelzmütze
Im dritten Jahr meines Studiums traf ich an einem grauen Februarmorgen Professor Edersheim auf der Rapenburger.
»Mijnheer Goudveyl«, sagte er, »das ist lange her! Meine Frau und ich sprechen oft von Ihnen. Spielen Sie noch viel?«
»Ja, soviel wie möglich«, sagte ich.
»Wir sollten wieder einmal zusammen spielen«, sagte er, »aber seit mein Kollege zurück ist, ist unser Trio wieder komplett. Wir werden aber bald einen Musikabend geben... Warten Sie, haben Sie nicht Lust zu kommen? Vielleicht können Sie dann auch etwas spielen?«
»... so viele Zwischenprüfungen«, murmelte ich.
»Ach, nur ein einziger Abend«, sagte er, »das geht doch wohl? Meine Tochter würde sich bestimmt auch freuen, Sie wiederzusehen. Außerdem kommen die beiden Töchter meines Freundes Aaron Oberstein. Die Ältere bleibt in den Niederlanden, sie geht hier in Den Haag aufs Konservatorium. Sie singt wunderbar. Die Jüngere ist ein Bild von einem Mädchen.«
»Wann ist das?« fragte ich.
»Nächste Woche Mittwoch. Können Sie da?«
»Ich glaube, ja«, sagte ich.
»Wunderbar«, sagte er, »dann erwarte ich Sie so gegen acht Uhr.«
In der Woche darauf wehte ein scharfer Nordost, und die Wasserleitungen froren ein. Sogar in meinem Zimmer sank die Temperatur unter Null. Meine Vermieterin brachte mir einige Abende nacheinander zuerst Suppe, dann Kaffee, zum Schluß kochendheiße Schokolade. An dem bewußten Mittwoch schneite es. Als ich abends weggehen wollte, kam mir meine Vermieterin im Flur entgegen.
»Ach, müssen Sie noch weg bei diesem Hundewetter?« fragte sie.
»Das ist kein Hundewetter«, sagte ich.
»Müssen Sie weit?« fragte sie besorgt.
»Nach Voorschoten«, sagte ich.
»Ganz nach Voorschoten? Mit dem Fahrrad? Bei diesem Wetter?«
»So schlimm ist das nicht«, sagte ich.
»Aber Sie haben nicht einmal was auf dem Kopf, und Sie tragen eine so dünne Jacke, ach, das geht doch nicht. Warten Sie, ich habe noch eine wunderbare Pelzmütze von meinem seligen Mann. Hat er aus Ungarn mitgebracht. Und ich habe auch noch einen dicken Dufflecoat. Hol ich mal schnell.«
Sie eilte davon, kam kurz darauf mit einem langen, irgendwie militärisch aussehenden Mantel und einer riesigen Pelzmütze mit Klappen wieder.
»Na bitte«, sagte sie, »ist das nicht großartig? Kann ich Ihnen leihen. Sie müssen die Klappen über die Ohren ziehen, und dann können Sie sie vorn schön zusammenknoten, so daß Ihr Mund bedeckt ist.«
Sie setzte mir die Mütze auf, schlug die Klappen herunter und knotete sie zusammen. Danach half sie mir in den gewaltigen Mantel.
»Ja, ja«, rief sie begeistert, »nun können Sie durch Pußta und Steppe!«
Mantel und Pelzmütze boten in der Tat Schutz gegen den eiskalten Polarwind, den ich auf dem Hinweg noch im Rücken hatte. Märchenhaft sah die Welt aus, aber es war glatt. Unterwegs rutschte ich zweimal aus. Ziemlich zerzaust und durchgepustet erreichte ich die Eilandpolderlaan. Eine dünne Schicht Pulverschnee bedeckte die kahlen Baumkronen längs des Weges. Es schien, als hätte Gott die Welt gerade erst erschaffen.
Mein Fahrrad stellte ich wie immer an der Seite des Hauses ab. Ob wohl Yvonne Kogeldans wieder auftauchte in dieser eiskalten, winterlichen Einsamkeit? Um das Haus herum war der Schnee schon etwas geschmolzen. Nur der Ziegelsteinweg, der zur Haustür führte, war noch weiß. Bevor ich einen Fuß darauf setzte, ging die Haustür auf. Professor Edersheim kam mit einem Besen heraus. Offenbar wollte er den Weg fegen. Er sah mich bei der Pforte am Anfang des Ziegelsteinwegs stehen. Er hob den Besen; es war, als wolle er mich damit verjagen. Vermutlich sah ich mit Pelzmütze und Mantel ziemlich gefährlich aus. Mit meinen klammen Fingern
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