Das Wüten der ganzen Welt
allem, weil das Publikum immer nur Beethove n und Tschaikowsky und Mahler und Brahms hören will.«
»Joanna hat Kompositionen von mir...?«
»Ja, sie sagte immer, daß du nichts davon wüßtest, daß sie es ohne dein Wissen täte, ich habe das nie geglaubt, ich wußte damals noch nicht, daß du mich haßtest, jetzt glaube ich es... Also gut, du hast Talent, und zwar vor allem für das leichtere Genre, du könntest ein Massenet des zwanzigsten Jahrhunderts sein, ich verstehe nicht, daß du noch nie eine Oper...«
»Die Libretti sind immer entweder unsinnig oder märche nhaft«, sagte ich, »oder sie sind fürchterlich banal und blutrünstig wie in der Zeit des Verismus.«
»Das Leben ist banal«, sagte er, »das Leben ist eine Dreigroschenoper, all die erhabenen literarischen Geschichten versuchen nur, die bittere Pille zu versüßen, schlagen nur Schaum vor deinen Augen, vertuschen und vergewaltigen nur die alltägliche Wirklichkeit, blenden dich nur mit Ästhetik. Hannah Arendt spricht so eindrucksvoll von der Banalität des Bösen, aber auch das Gute ist banal, sogar das Erhabene is t banal. Das Leben ist so flach, soll ein Dichter einmal gesagt haben, daß du an seinem Ende schon deinen Grabstein stehen sehen kannst.« Wir erreichten die kleine Brücke. Schwer stießen zum zweitenmal unsere Schuhe an die Holzplanken. In der Mitte blieb er stehen. Er sagte: »Ich bin nun weit über siebzig und habe ein über das andere Mal erfahren, wie klein die Welt ist. Du sitzt in einem Flugzeug neben jemandem, den du noch nie gesehen hast, ein Wort ergibt das andere, und ihr stellt fest, daß ihr mindestens drei gemeinsame Bekannte habt. Oder du sitzt, wie es mir in New York passiert ist, in der Subway neben einem uralten Mann. Du kommst mit ihm ins Gespräch: Er stammt aus Deutschland, war gut befreundet mit Ruths Eltern. So geht es oft, die Welt ist unheimlich klein. Verstehen kann ich das nicht, es gibt Milliarden von Menschen, und doch... Kurz und gut, so werde ich mit Sicherheit auch noch einmal dem Kind begegnen, und eines weiß ich gewiß: Schon beim ersten Blick, beim ersten Händedruck werde ich wissen, wen ich vor mir habe.«
»Und was würden Sie ihm oder ihr dann sagen?« Er schaute mich grimmig und doch fröhlich an, sagte dann mit unverfälschtem Rotterdamer Akzent: »Nichts, gar nichts, ich werd das Maul ganz fest zuhalten.«
Er legte seine Hände auf das Brückengeländer, beugte sich vor, sah ins Wasser. Ich stellte mich neben ihn. Unter uns kräuselte sich ganz leicht die glatte Wasserfläche. Dann verschwand das Gekräusel, und im Wasserspiegel, heraufbeschworen vom Licht der Straßenlaternen, kamen unsere Gesichter zum Vorschein, erst das seine, dann das meine. Aufmerksam schauten wir unsere Spiegelbilder an. Wir sagten nichts, wir standen, starrten. Sein kahler, wilder Kopf mit all dem grauen Haar an den Seiten und diesem gewaltigen Bart und dieser verrückten kleinen Brille schien überhaupt nicht meinem ebenfalls kahlen, aber kurzgeschorenen Kopf und bartlosen Gesicht zu gleichen. Dann kräuselte sich das Wasser, und unsere Gesichter verschwanden.
Wir gingen schweigend weiter. Wir erreichten den Weg, der am Wasser entlang zu meinem Haus führte. Schon von weitem sahen wir sie alle zusammen vor unserem Haus im schwachen Lampenlicht, das aus dem Wohnzimmer nach draußen fiel, nach uns Ausschau halten. Über ihren Köpfen wölbte sich der tiefschwarze Abendhimmel. Man sah den Fuhrmann und die Kassiopeia und Andromeda und Perseus und den Schwan und die Leier; die Sterne standen natürlich noch immer am selben Fleck. Die anderen Sternbilder waren wegen der tiefschwarzen Wolken nicht zu sehen. Ich schaute zu ihnen hinauf, zu diesen uralten Sternbildern, die dort seit Millionen von Jahren existierten und noch nach Millionen von Jahren da sein würden, und es war, als dürfte ich vergessen, was ich gerade auf der Insel aus dieser einen beiläufigen Bemerkung über eine dubbele hit, eine hochbeinige Mähre, gefolgert hatte.
Ich suchte nach dem Fleckchen des Andromedanebels, fand es aber nicht auf Anhieb. Daher blieb ich einen Augenblick stehen; mein Schwiegervater ging weiter, sah sich dann um, fragte: »Was machst du da? Wonach suchst du?«
»Oh, ich versuche, den Andromedanebel ausfindig zu machen.«
»Interessierst du dich für den Sternenhimmel?«
»Mehr oder weniger«, sagte ich.
»Ich hätte so furchtbar gern Astronomie studiert, aber das war nicht möglich, ich mußte Geld mit meiner Geige
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