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Das Wüten der ganzen Welt

Das Wüten der ganzen Welt

Titel: Das Wüten der ganzen Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maarten 't Hart
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nirgends mehr zu sehen. Auch von den Zuhörern war nicht ein einziger zurückgeblieben. Auf der Wasserstraße tutete ein Schiff, es regnete ziemlich stark, die President Steynstraat war völlig verlassen, die Pflastersteine glänzten im Licht, das aus unserem Lagerhaus nach draußen fiel. Da tauchte Varekamp, von der Cronjéstraat her, auf.
    »Können Sie mal eben herkommen, Nachbar?« bat ich. »Vroombout liegt bei uns im Lagerhaus.«
    Varekamp kam mit in das erleuchtete Lagerhaus. Er beugte sich zu Vroombout herunter, drehte ihn vorsichtig auf den
    a Rücken, sagte dann völlig f ssungslos: »Ich glaube bei allem, was wahr ist, daß Arend tot ist.«
    Selbst in dem Augenblick erschrak ich nicht. Erst als ich abends im Bett lag, begann ich, sobald ich wegdämmerte, heftig zu zittern. Gott hatte, wußte ich, wieder einmal gesucht, mich zu töten, und, wieder hellwach geworden, aber noch an allen Gliedern bebend, lag ich mit offenen Augen im Dunkeln und versuchte, mich zu erinnern, ob die Armbewegung jenes Mannes, den ich nur ganz kurz angeschaut hatte, die Gebärde eines Menschen gewesen war, der eine Pistole auf jemanden richtete. 

Graswinckel
     
    Wenn ich an die erste Woche nach dem Mord an Vroombout zurückdenke, erscheint mir alles, was ich damals durchgemacht habe, als Sinnestäuschung. Nach dem Abendessen tauchte regelmäßig Inspektor Graswinckel auf. Er war ein etwas förmlicher, aber gemütvoller grauhaariger Mann, der sich oft die Hände rieb. Immer blies er eine seiner Wangen auf. Dann schlug er sich kräftig seitlich ins Gesicht. Die Luft entwich wie ein geräuschvoller Furz aus seinen zusammengekniffenen Lippen. Als er an einem Montagabend zum erstenmal durch das Lagerhaus zu uns in die Küche kam, sagte er aufgeräumt: »Na, Leute, habt ihr schon geschlemmt? Ja? Das paßt ja gut. Kommst du dann mal eben mit, mein Junge, nur ein kleiner Gang zum Hafen?«
    Gemeinsam gingen wir durch die President Steynstraat und die De La Reystraat zur Hafenmole. Es hatte leicht gefroren, die Luft war klar, es war Neumond. Die Sterne glänzten über dem weiten Wasser.
    Graswinckel fragte: »Kennst du die Sternbilder?«
    »Sternbilder?«
    »Du hast noch nie etwas von Sternbildern gehört?«
    »Nein«, sagte ich.
    »Na, dann werd ich dir die erst mal beibringen. Hier über unserem Kopf steht das W der Kassiopeia, und daneben siehst du die Andromeda, und dort, alle die Sternchen nebeneinander, das sind die Plejaden, und das ist Perseus, und daneben siehst du den Fuhrmann mit dem einen hellen Stern, das ist die Kapella, und ein Stück weiter sind die Zwillinge. Es ist schade, daß der Orion noch nicht da ist, dazu ist es noch zu früh, und den Schwan sehe ich auch nicht, der sitzt irgendwo hinter Rozenburg. Aber der Große Bär hängt da hinten fast auf dem Kopf über Hoek van Holland.«
    Er zeigte und zeigte und ließ mich die Namen wiederholen. Dann schauten wir eine Weile schweigend auf den mächtigen Fluß. Windstöße kräuselten das Wasser, und er sagte: »Das ist mir was! Wird da unser eigener Arend Vroombout einfach in eurem Lagerhaus erschossen! Mit einer einzigen Kugel! Wer kann das nun aber getan haben? Ein Mann mit einer festen Hand, soviel ist sicher. Aber warum? Nun sag mir mal: Hast du wirklich keine Ahnung, wer das gewesen sein könnte?«
    »Nein«, sagte ich, »ich hab ihn nur ganz kurz gesehen, er hatte einen Hut auf und einen dunklen Schal vor dem Mund.«
    »War er groß, war er klein?«
    »Ich hab ihn nur ganz kurz gesehen, ich weiß es nicht.«
    »Ach, nun komm«, sagte er händereibend, »du hast doch sicher irgendeine Vorstellung.«
    »Er war größer als der Schrank, neben dem er stand«, sagte ich.
    »Ha, da haben wir doch wenigstens etwas, na bitte, werd nachher gleich mal den Schrank ausmessen. War er viel größer?«
    »Er war größer.«
    »Ich kann aber nicht verstehen«, sagte Graswinckel, »daß keiner gesehen hat, wie er bei euch hereinspaziert ist. Es stand dort doch alles in allem 'ne ganz hübsche Menge Leute.«
    »Sie blickten alle auf Everaarts«, sagte ich.
    »Wir haben eine Liste mit so ziemlich allen Menschen, die da zugehört haben, wir haben sie alle, einen nach dem andern, ins Gebet genommen, und niemand, niemand hat etwas gesehen. Ich kapier das nicht. Und was ich auch nicht verstehe, ist, warum so ein Schütze Vroombout während einer Evangelisationskampagne umlegt. Wer begeht denn einen Mord mit so vielen Zeugen in nächster Nähe? Zehn zu eins rennen die Menschen nach dem

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