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Das Wüten der ganzen Welt

Das Wüten der ganzen Welt

Titel: Das Wüten der ganzen Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maarten 't Hart
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regnete, hatten mein Vater und ich darauf verzichtet, den Blüthner nach draußen zu befördern. Bei offenstehenden Lagerhaustüren mußte es auch möglich sein, den Kreuzzugsgesang zu begleiten. Wenn man mich nur gut hören konnte, reichte das aus. Übrigens konnte ich, wenn ich eine der Türen halb schloß, von meinem Platz am Klavier aus zwischen Türspalt und Türrahmen hindurch die naß glänzende Gemüsekiste sehen, die schon an der Ecke President Steynstraat und Cronjéstraat hingestellt worden war.
    Mit durchnäßten Kopftüchern liefen hittepetitjes vorbei. Sie trugen schwere Einkaufstaschen. Um Viertel vor drei war noch niemand zu sehen. Dann aber kamen die Reformierten und die Evangelischen zum Vorschein. In Regenmäntel gehüllt und mit Regenschirmen über ihren Köpfen, scharten sie sich um die Gemüsekiste. Durch den Spalt sah ich nur noch die Rücken. Um fünf vor drei erschien Bruder Everaarts. Er trat hinter die Gemüsekiste. Drei Minuten später testete ein Angestellter der Firma Hees & Co., ob Mikrofon und Lautsprecher funktionierten.
    Während des dritten und letzten Schlags der Kirchturmglocke sah ich den Kopf von Bruder Everaarts über den Rücken auftauchen. Mit sich überschlagender Stimme rief er: »Liebe Freunde!«
    Er wartete. Ich hörte das Geräusch der Fahrradreifen. Dann erklangen Stimmen, und wahrhaftig: Es kamen noch mehr Menschen hinzu. Apotheker Minderhout ging an den geöffneten Lagerhaustüren vorbei, begleitet von einer Frau, die im Hoofd ein mokkel genannt wurde. Sie wohnte in einer Oberwohnung an der Burgemeester de Jonghkade. Sie hatte zwei Söhne, war aber nicht verheiratet. Sie stammte ursprünglich aus England.
    »Liebe Freunde«, sagte Everaarts nochmals.
    Jetzt wurde ein Fahrrad vorn an unser Haus gelehnt, Fußschritte waren zu hören. Everaarts sagte: »Liebe Freunde, wir singen: ›Da rauscht in den Wolken‹.«
    Mir war aufgetragen worden, nach dieser Ankündigung ein langes Vorspiel zu improvisieren. In dieser Zeit konnten dann die Kopien mit den Liedertexten ausgeteilt werden. Eine Frau mit einer Regenhaube, die ich durch den Türspalt sehen konnte, bekam eine solche Kopie und ließ sie, nachdem sie einen Blick darauf geworfen hatte, in eine Pfütze fallen. Langsam drehte sich das Blatt im flachen Wasser.
    Da setzte ich mit »Da rauscht in den Wolken« ein. Draußen ertönte zögernder Gesang. Beherzt spielte ich weiter. Bei der Zeile »...der Himmel und Erde vereint« hörte ich hinter mir Schritte. Jemand kam ins Lagerhaus. Erst nach dem kurzen Nachspiel drehte ich mich um. Lächelnd, mit erhobenen Händen, als wolle er »Halleluja« sagen, trat Vroombout auf mich zu. Ruhig stand ich auf, ging zu den Türen des Lagerhauses; vorläufig sollte nicht ge sungen werden, warum sollte ich mich nicht draußen hinstellen. Aber Vroombout versperrte mir den Weg, flüsterte: »Bleib doch hier!«
    Von dort aus, wo ich stand, konnte ich durch den Spalt gerade noch den Kopf von Everaarts sehen. Er wies in Richtung des Nieuwe Waterweg und rief: »Liebe Freunde, da steht ein Kreuz, ein Kreuz, das uns Heil bringt, ein Kreuz, das uns reinwäscht, ein Kreuz, das uns entsündigt. Ja, liebe Freunde«, er wies noch einmal mit Entschiedenheit zum Waterweg, »da steht ein Kreuz.«
    Er schwieg einen Augenblick, weil gerade ein Motorroller vorbeifuhr.
    Dann wies er zum drittenmal zum Waterweg und rief mit sich überschlagender Stimme: »Dort, meine Geliebten, steht ein Kreuz.«
    Vroombout stellte sich neben mich, legte einen Arm um meine Schulter. Hastig trat ich einen Schritt beiseite. Er blieb stehen, wo er stand, lächelte mich an. Mir war, als müßte ich vor Scham umfallen. Wir lauschten der merkwürdigen geographischen Ansprache von Everaarts. Er wiederholte unaufhörlich, daß dort ein Kreuz stehe, und er fing auch vom Roten Meer an und zählte dann in wechselnder Reihenfolge das auf, was uns das Kreuz und das Rote Meer beschert hätten und uns, wenn wir an das Kreuz glaubten, nach dem Tode bescheren würden. Er führte auch in aller Schärfe aus, was uns erwartete, wenn wir das Kreuz verwarfen: ewige Pein, Höllenfeuer, Würmer. Seine Worte wurden immer wieder übertönt vom lauten Krachen der Knallfrösche und Schwärmer der gassies, die offenbar ihren Spaß daran hatten, die Kreuzzugskampagne durch ein Feuerwerk zu erleuchten.
    »Immer wieder das Kreuz und das Rote Meer«, sagte Vroombout.
    »Das soll so, hat Koevoet gesagt«, sagte ich.
    »Da hören überhaupt nur Reffermierte

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