Das Wüten der ganzen Welt
anschließen sollte. Die Reformierten fanden, daß sie und ihre Söhne reformiert werden sollten. Sie waren schließlich die Initiatoren des Kreuzzugs gewesen. Außerdem hatte Alice Keenids am Frommen Samstag unter den Zuhörern eines reformierten Bruders, Bruder Everaarts, gestanden, und meine Mutter sagte: »Sie ist natürlich durch den Mord, der sozusagen direkt vor ihrer Nase passiert ist, richtig darauf gestoßen worden, wie sterblich sie ist. Ob wir nun vielleicht doch noch einen Taufgottesdienst bekommen? Ob sie wohl, gemeinsam mit ihren beiden Sprößlingen, bei uns in der Kirche...?«
Schon bald stellte sich heraus, daß ihre beiden Söhne kurz nach dem Krieg in der englischen Kirche in Rotterdam getauft worden waren. Sie war damals noch Mitglied der anglikanischen Kirche gewesen. Sie selber war in Hull getauft worden. Meine Mutter trauerte.
Da sie von Haus aus anglikanisch war, meinten die Evangelischen, daß sie zusammen mit ihren beiden Söhnen evangelisch werden solle. Die evangelische Kirche stand dem Anglikanismus näher als die reformierte Kirche. Und während Reformierte und Evangelische sich noch darüber stritten, welcher Kirche sie beitreten sollte, versuchte ein Kapitän der Heilsarmee, sie zu überreden, dieser Organisation beizutreten.
»Dazu neigte ich damals schon«, sagte sie später zu mir, »ich habe die Heilsarmee immer sympathisch gefunden. Aber für meine Söhne schien mir das nichts zu sein. Sollten die etwa in solch einer Uniform und mit solch einem Käppi durch die Straßen marschieren und Posaune blasen? Also, nicht daß ich mich selbst etwa in schwarzen Strümpfen und mit so 'nem verrückten Hut auf dem Kopf durch die Straßen ziehen sah, aber ich fand und finde die Heilsarmee sympathisch. Vielleicht kommt es daher, weil ich als Kind in Hull gesehen habe, wie sie Suppe an arme Leute ausgeteilt haben. Kurz, ich habe mir damals, wie ich finde, eine sehr elegante Lösung für das Problem ausgedacht: Wir würden eine wahrhaft ökumenische Familie werden. Mein Ältester evangelisch, mein Jüngster reformiert und ich selbst ohne Hütchen und Strümpfe bei der Heilsarmee.«
Daher gesellte sich im Jahr des Herrn 1957, im Februar, ihr jüngster Sohn zu der Gruppe der Konfirma nden, die Montag abends im Konsistorialraum der Zuiderkerk eine Stunde lang mit den Fragen und Antworten der zweiundfünfzig Sonntage des Heidelberger Katechismus gestärkt wurde. Drei Montagabende lang schaute er totenbleich und schweigend auf unseren schnurrigen, immer gutgelaunten Pastor. Am vierten Montag - da war schon März - öffnete sein älterer Bruder selbstbewußt die Tür des Konsistoriums. Herausfordernd blickte er, nachdem er Platz genommen hatte, Pastor Dercksen an. Ab und zu flog ein Nervenzucken wie ein Kräuseln von oben nach unten über sein Gesicht. Dann war es, als bräche der eigenartig schmale Kopf mit dem braunroten, aufrecht stehenden Haar für einen Augenblick auseinander und über seinem breiten Mund erschiene ein Riß. Durch den Nerventick glitt seine Brille den Nasenrücken herab. Mit dem Zeigefinger schob er das Gestell wieder an seinen Platz zurück. Nach dem Eröffnungsgebet zeigte Pastor Dercksen auf ihn und sagte: »Du, wer bist du, ich kenne dich nicht.«
»Ich bin Herman Keenids.«
»Oh, du bis t ein Bruder von William. Wo ist William?«
»Der kommt nicht mehr.« »Kommt nicht mehr? Warum nicht?« »Es gefiel William überhaupt nicht, reformiert zu sein, und mir macht es, ehrlich gesagt, nicht viel aus, evangelisch oder reformiert zu sein. Darum haben mein Bruder und ich getauscht. Er ist evangelisch geworden, und ich bin jetzt reformiert.« »Ja, ja, aber das geht... das geht doch nicht so.« »Ich sehe nicht ein, warum nicht«, sagte Herman. »Mein Bruder findet es viel angenehmer, evangelisch zu sein, und ich will mal ausprobieren, wie es ist, reformiert zu sein, also, warum sollten wir dann nicht tauschen dürfen?«
Über seine Brille hinweg schaute Pastor Dercksen Herman Keenids erstaunt und auch ein bißchen hilflos an. Unbekümmert blickte ihn Herman seinerseits an. Dann sagte er: »Von meinem Bruder habe ich gehört, daß Sie letzte Woche Sonntag, 27., Frage 72 besprochen haben und daß er sie zu heute auswendig lernen sollte. Deshalb habe ich sie nun gelernt: ›Ist denn das äußere Wasserbad selber die Reinwaschung von Sünden? Es heißt nein; denn nur das Blut von Jesus Christus und der Heilige Geist reinigen uns von aller Sünde.‹«
Er schwieg einen
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