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Das Wüten der ganzen Welt

Das Wüten der ganzen Welt

Titel: Das Wüten der ganzen Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maarten 't Hart
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stieg hinter ihm die Treppe zur Oberwohnung hinauf. Er öffnete die Tür zum Wohnzimmer, ging hinein, trat zur Seite und rief seiner Mutter, die an einem Flügel saß, aber nicht spielte, zu: »Dies ist Alex, das ist der Junge, der in dem Lagerhaus spielte, als Vroombout ermordet wurde.«
    Zwei stahlblaue Augen sahen mich ruhig an. Mit der rechten Hand schob sie eine Haarlocke nach hinten, die gleich wieder zurückfiel. Dann stand sie auf und sagte: »Ich mache mal eine Tasse Tee.« Sie sah mich wieder an, fragte: »Für dich auch?«
    »Ja, gern«, sagte ich.
    Sie ging in die Küche. Langsam schlenderte ich zum Flügel. Noch nie hatte ich meine Finger auf die Tasten eines richtigen Flügels gelegt. Vor Verlangen, darauf zu spielen, bekam ich eine Erektion.
    »Ob deine Mutter wohl etwas dagegen hätte, wenn ich einmal auf dem Flügel spielte?« fragte ich meinen neuen Freund fast seufzend.
    »Natürlich nicht«, sagte er achtlos.
    Auf dem Hocker, der vor dem Flügel stand, stützte ich mich vorsichtig mit einer Pobacke ab. Schüchtern schlug ich ein paar Töne an, spielte dann langsam eines der kleinen Präludien von Bach. Ich war noch nicht in der Hälfte angelangt, als seine Mutter angerannt kam, und erschrocken hielt ich inne.
    »Herman sagte, daß ich dürfte...«, stotterte ich, »nehmen Sie es mir... ich, ich habe noch nie auf einem Flügel gespielt.«
    »Du hast mich überhaupt nicht sagen hören, daß du das nicht durftest«, sagte sie bissig, »aber ich möchte allerdings gern wissen, bei wem du Unterricht gehabt hast, du fällst wie ein Kartoffelsack auf jede Taste herunter. Spiel den Bach noch einmal.«
    Während sie aufmerksam auf meine Finger sah, spielte ich bebend zum zweitenmal das kleine Präludium.

    »Du spielst wie ein Hund am Strand, der alles zweimal abläuft«, sagte sie. »Bei welchem Pfuscher hast du Unterricht gehabt?«
    »Ich habe nie Unterricht gehabt«, sagte ich.
    »Du hast nie Unterricht gehabt? Ach komm, das kannst du mir nicht weismachen, niemand kann... nein, warum willst du deinen Lehrer schonen, Bürschchen?«
    »Wirklich wahr, ich habe nie Unterricht gehabt. Bei uns im Lagerhaus steht ein altes Klavier, ein Blüthner, und dazu gehört ein ganzer Stapel Bücher, und in einem dieser Bücher, einem deutschen Buch, glaube ich, wird genau erklärt, wie man sich selber Klavierspielen beibringen kann.«
    »Kannst du denn Deutsch lesen?«
    »Nein, aber jemand hat mit Bleistift die Übersetzung daneben und darüber geschrieben, es ist ein ganz dickes Buch, darin steht alles über Tonleitern und über Viertel und Achtel und über Akkorde, und daher... ich habe es vollständig durchgearbeitet, und am Ende steht das Präludium von Bach, das ich eben gespielt habe.«
    »Das Buch würde ich gern einmal sehen.«
    »Ich kann es ja mal mitbringen«, sagte ich.
    Sie ging wieder in die Küche, kam kurz danach mit einer riesigen Teekanne und vier Tassen zurück.
    »Ruf du eben Bill«, sagte sie zu Herman.
    Sie schenkte mir Tee ein, und während der braune Strahl leise prasselnd in die Tasse floß, sagte sie: »Wenn es wirklich wahr ist, daß du dir das Klavierspielen selbst beigebracht hast, ist das eine wirkliche Leistung, dennoch müßtest du bei einem sehr guten Lehrer mit dem Unterricht wieder von vorn anfangen. Wenn du so weitermachst, wirst du mit jedem Tag ein größerer Stümper. Du müßtest wirklich Unterricht nehmen.«
    »Ich würde unheimlich gern Klavierunterricht nehmen«, sagte ich, »aber das kostet Geld, und ich habe zwar gespart, aber längst nicht genug.«
    »Aber du hast doch Eltern?«
    »Ja, aber die... nein, Klavierstunden... und sie bezahlen?«
    »Nun, dann trägst du eben Zeitungen aus«, sagte sie nüchtern.
    »Dabei verdient man, wenn überhaupt, einen Gulden in der Woche«, sagte ich, »und wieviel kostet denn eine Klavierstunde?«
    »Ich nehme einsfünfzig für die Stunde«, sagte sie, »und davon weiche ich nicht ab, also sieh mal zu, wie du die fünfzig Cent jede Woche noch dazubekommst. Heute ist Montag, du wirst es vielleicht nicht schaffen, noch in dieser Woche etwas zu bekommen, oder vielleicht schaffst du es auch überhaupt nicht, aber wir verabreden, daß du nächste Woche Samstag um halb vier hierher zu deiner ersten Stunde kommst.«
    Sie sah mich mit ihren großen blauen Augen an. Sie machte eine Gebärde mit der rechten Hand, als würde sie Brotrinden nach vorüberfliegenden Möwen werfen. Sie sagte: »Von mir aus kannst du, wenn du jetzt keine Arbeit als

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