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Das Wüten der ganzen Welt

Das Wüten der ganzen Welt

Titel: Das Wüten der ganzen Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maarten 't Hart
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können?«
    Ich nickte. »War das Bach?« fragte ich.
    »Nein, nein, das war jemand, der sein ganzes Leben lang davon geträumt hat, Bach zu sein, es war die Air vo n Samuel Wesley. Wenn ich es spiele, habe ich immer das Gefühl, Wesley trauerte darum, daß er nur ein mittelmäßiger Komponist war.«
    »Aber sie ist wundervoll«, sagte ich entrüstet.
    »Dem widerspreche ich nicht, er trauert großartig.«
    Der Organist war nicht viel größer als ich. Er war ziemlich gesetzt. Auch wenn er so groß gewesen wäre wie König Saul, würde er nie der Mörder gewesen sein können. Der hatte mich durchdringend angesehen, mit beiden Augen. Mijnheer Brikke konnte mich nicht mit beiden Augen ansehen. Er schielte zu sehr. Eines seiner Augen ruhte freundlich auf mir, und er sagte: »Wenn du magst, komm einmal mit nach oben. Dann werde ich dir die Orgel zeigen, und du kannst beim Registerziehen helfen. Hättest du Lust dazu?«
    Vorsichtig nickte ich, obwohl ich schon da sicher wußte, daß ich es nie wagen würde, mit hinaufzugehen. Dort hätte mich wahrscheinlich dieselbe erniedrigende Erfahrung erwartet wie in der »Gärtnerei«.
    Wenn ich mich genau erinnere, hat Graswinckel bald danach noch einmal mit mir geredet. Mit Sternbildern über uns am Fluß? In seinem Büro? Merkwürdig, daß ich das nicht mehr weiß. Doch ich weiß noch, wie er mich anblickte, als ich ihm erzählte, daß ich sicher sei, Schilder und Brikke könnten es nicht gewesen sein. »Schilder geht krumm«, sagte ich, »und Brikke schielt. Dieser Mann bei uns im Lagerhaus stand kerzengerade hinter mir, und geschielt hat er bestimmt nicht. Und Hoekstra... nein... Hoekstra...«
    »Bist du dir auch sicher, daß es Hoekstra nicht war?«
    Wieder sah ich die neckenden Stöße mit dem Billardqueue in meine Richtung. Schon wegen dieser neckenden Stöße schien es mir ausgeschlossen, daß Hoekstra der Mörder sein könnte, aber es schien auch unmöglich, Graswinckel das zu erklären. Der sagte: »Na ja, ich kann dir sagen, daß wir inzwischen auch nicht untätig gewesen sind. Wir wissen jetzt hundertprozentig, daß es keiner dieser drei Kerle gewesen ist. Auch Hoekstra nicht, er... ach, das geht dich nichts an, ich wollte, ich hätte die Namen nie erwähnt... Was macht das Klavierspielen?«
    »Oh, gut«, sagte ich.
    »Weiter so«, sagte er. 

Alice
     
    Nach dem Frommen Samstag erwähnte niemand die Bekehrten, die jene Evangelisationskampagne gebracht hatte. Mord verdrängte Gnade. Die Organisatoren werden, falls sie in ihren Konsistorien offen und in ihrer eigenen Sprache darüber geredet haben, »nicht traurig darüber gewesen sein«. Aus dem, was ich so hin und wieder an den Havenkaden und am Veerhoovd, dem Fährhafen, auffing, schloß ich, daß der Erfolg der Kreuzzugskampagne minimal war. Anfangs schien es sogar, als wäre kein einziger Ungläubiger dem Lockruf des Evangeliums erlegen. Dann aber kam im Schanshoofd das Gerücht auf, in der Paul Krugerstraat habe eine Familie mit zwanzig Kindern den Weg zu Jesus gefunden, doch später stellte sich heraus, daß die beiden armseligen »Züchter«, wie mein Vater die Eltern nannte, nur auf eine ansehnliche Unterstützung von der Diakonie ausgewesen waren. In der St. Aagtenstraat, im Volksmund »dem Pferd sein Maul« genannt, sollte angeblich ein pensionierter papistischer Hetzer bekehrt worden sein. Und an der Südseite des Zuidervliet hatten zwei uralte Weiblein den Weg zu Jesus zurückgefunden. Aber worauf sich meine Mutter gespitzt hatte - einen Morgengottesdienst, bei dem Dutzende von Erwachsenen getauft werden würden -, blieb aus.
    »Ach, wie schade«, sagte sie, »ich finde es so phantastisch, wenn Erwachsene getauft werden, das stärkt einen so gewaltig in seinem eigenen Glauben, aber na ja, es kommt natürlich von diesem Mord, dadurch sind die Menschen erschrocken, das ist aber auc h was, und dann noch in unserem eigenen Lagerhaus! Hätten sie nun wirklich nicht einen anderen Platz finden können, um Vroombout totzuschießen? Mußte das nun ausgerechnet bei uns passieren?«
    Dann aber erzählte mein Vater, daß »das englische mokkel von der Burgemeester de Jonghkade«, wie meine Mutter sie immer verächtlich genannt hatte, »nach Gott gefragt habe«. Gemeinsam mit ihren beiden unehelichen Söhnen wolle sie der Kirche beitreten. Da die Kampagne jedoch von den Evangelischen, den Reformierten und der Heilsarmee organisiert worden war, schien nicht sogleich klar, welcher Kirche sie sich mit ihren Kindern

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