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Das Wüten der ganzen Welt

Das Wüten der ganzen Welt

Titel: Das Wüten der ganzen Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maarten 't Hart
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dann hier?«
    »Ich wollte sehen, ob mein Vater vielleicht hier ist, meine Mutter...«
    »Wer ist dein Vater? Zu wem gehörst du?»
    »Mein Vater ist... er handelt mit Lumpen und...«
    »Aha, Goudveyl, so, bist du einer vom Goudveyl, na, da wundere ich mich aber. Bist du ganz sicher, daß deine Mutter nicht einen über 'n Durst getrunken hat?«
    Er beugte sich weit vor, sah mich durchdringend an, sagte nachdenklich: »Du einer von diesem Zwerg Goud veyl? Wirklich wahr? Dann ist der Apfel aber bannig weit vom Stamm gefallen!«
    »Vielleicht hat seine Mutter mal einen Tag Ausgang gehabt«, sagte der Mann, dessen Sohn noch immer hinüber war.
    »Na, na, na«, sagte der Mann, der neben der spindeldürren Frau saß. Er ließ sich von seinem Hocker gleiten. »Wenn du alle Söhne, die ihrem Vater nicht ähnlich sehen, ernähren solltest, hättest du an sechzig Zentnern Kartoffeln nicht genug... Und wer hat jetzt Lust, Billard zu spielen?«
    Er zog seine Jacke aus. Er trug eine ärmellose, schwarz glänzende Weste darunter. Er war groß. Er schaute mich forschend, aber auch freundlich mit seinen dunkelbraunen Augen an. Er hatte schwere Augenbrauen. Er lief um den Billardtisch herum, griff ein Queue, griff dann ein Stück blaue Kreide, um die Spitze des Queues zu bearbeiten. Er sah mich noch einmal an, lächelte ein wenig und stieß neckend mit dem Queue in meine Richtung.
    »Ich kann es immer noch nicht fassen, daß du hierherkommst, um nach deinem Vater zu suchen«, sagte der Cafébesitzer. »Wenn er hier überhaupt einmal herkommt, dann nur, um altes Dreckzeug mitzunehmen, und nie, um etwas zu essen oder zu trinken. Nein, dein Vater ist wirklich nicht hier, sag das deiner Mutter man.«
    »Ja«, sagte ich.
    Draußen schien noch immer die Sonne. Auf den Binnenschiffen im Hafen lag noch immer unberührter Schnee, der mit dem Sonnenlicht zu einer warmen, hellen, zartgelben Glut verschmolzen zu sein schien. Ich schaute und schaute und atmete wieder tief die kalte, wunderbare, prickelnde Luft ein und dachte dann: Der Mann könnte es gewesen sein. Und doch war der Mörder - vielleicht nur im Halbdunkel unseres Lagerhauses - imponierender gewesen. Er war wie König Saul gewesen, »himmelwärts größer als sein Volk«, dieser Mörder... sollte es denn doch Gott selbst gewesen sein?
    »Nein, natürlich nicht«, sagte ich laut zu der dünnen Schicht Schnee auf den Pflastersteinen, die leider schon von Füßen und Fahrradreifen entweiht war, und fügte murmelnd hinzu: »Wenn es dieser Mann war, warum verteidigte er mich dann den beiden anderen gegenüber?»
    Ich lief über den Schnee am Wasser entlang bis an die Hoogstraat und dann durch die Hoogstraat bis zur Schansbrug. Auf der Kircheninsel war keine Menschenseele zu sehen. Es schien unwahrscheinlich, daß ich in diesem Augenblick zufällig dem Organisten Brikke begegnen sollte, aber dieser Sonnenschnee barg so viel Versprechen, daß ich ruhig bis zur Grote Kerk weiterging.
    In der Kirche, und das war draußen gut zu hören, spielte jemand Orgel, und ich murmelte: »Siehst du wohl?«, und ch i versuchte, die riesige Klinke zu drehen, um die Kirchentür zu öffnen. Fast geräuschlos schwang die Tür nach innen, und so ging ich zuerst durch das Außenportal und betrat dann die Kirche. Niemand war zu sehen, die Sonne schien durch die großen Fenster, und ich stand da und lauschte. Über den kalten Kirchenboden schlich der tiefe Baß der Orgel näher. Weiter oben klang dünn die Mittelstimme, und beinahe aus dem Dachfirst kam eine bewegliche Oberstimme. Zwischen diesen drei Stimmen waren unermeßliche Zwischenräume, und es schien geradezu, als wolle der tiefe Baß die Tränen zurückhalten, die einem die wehmütige Oberstimme in die Augen treiben wollte. Es war ein Zwischenspiel, und dann begann die lieblich klagende Melodie wieder, und diese Melodie wischte meine Wanderung über den Sonnenschnee und den verwegenen Cafebesuch weg.
    Als alles vorbei war, begann es auf der Orgelempore zu rumoren. Der Organist würde wahrscheinlich gleich durch die Kirche nach vorn kommen. Und ich war sicher, daß ein Mann, der so etwas spielte, unmöglich ein Mörder sein konnte. So wartete ich ruhig ab, bis der Organist heruntergestiegen war. Als er in der Mitte der Kirche angelangt war, sah er mich dort stehen. Er trat schnell auf mich zu und sagte: »So, Bürschchen, was machst denn du hier?«
    »Ich hörte draußen die Orgel«, sagte ich.
    »Und da bist du hereingekommen, um besser zuhören zu

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