Das Wüten der ganzen Welt
Kleine hat ein goldenes Köpfchen. Ich schicke sie mal zu dir, wenn sie etwas älter sind. Das heißt, wenn du sie bei dir unterbringen kannst.«
Der Zug fuhr an, die Türen klapperten, die Gepäckablagen knarrten, die Fensterscheiben warfen nur noch uns selbst zurück. Als wir in dem Bahnhof einfuhren, wo Minderhout und ich aussteigen mußten, hörte ich ihn noch sagen: »Weiter gute Reise«, und einen Augenblick lang erwog ich, ob ich an ihrem Abteil vorbei zum Ausgang gehen sollte, aber ich traute mich nicht. Auf dem Bahnsteig lief ich allerdings an dem erleuchteten Fenster vorbei, hinter dem der Mann mit seinem dicken schwarzen Bart saß. Er war kaum zu sehen, er war hinter dem Mantel verborgen, der neben dem Fenster am Haken hing. Knirschend setzte sich der Zug in Bewegung und verschwand Richtung Hoek van Holland.
Kurz darauf hörte ich in der Bahnhofsallee schnelle Schritte hinter mir. Minderhout ging an mir vorbei, drehte sich dann um, verlangsamte seinen Schritt und sagte freundlich: »So, so, kommst du jetzt erst aus der Schule?«
»Ja«, brummte ich unwillig.
»Viele Hausaufgaben?«
»Hab ich schon gemacht«, sagte ich.
»Du kommst ja wohl ganz gut mit«, sagte er, »und von Alice hörte ich neulich, daß du auch schon sehr gut Klavier spielst. Hättest du nicht Lust, einmal bei mir zu Hause Musik zu machen? Ich habe da einen schönen Flügel stehe n, es ist ein Erbstück, und niemand spielt darauf, das ist doch eigentlich schade, also, wenn du Lust hast... du bist willkommen.«
Schweigend gingen wir einige Zeit nebeneinander weiter. Es war sehr dunkel in der Bahnhofsallee mit ihren hohen, mächtigen Platanen.
»Wer ist dein Lieblingskomponist?« fragte er.
»Beethoven«, sagte ich mürrisch.
»Nicht schlecht«, sagte er, »den schätze ich auch sehr. Als ich so alt war wie du, liebte ich Mendelssohn am meisten. Im Augenblick bin ich völlig von Strawinsky begeistert. Nun, ich muß jetzt gleich am Hafen entlang, und du gehst hier nach links über die Bahnschienen. Also nochmals: Ich würde mich freuen, wenn du einmal bei mir musizieren würdest, und wenn du es unangenehm findest zu spielen, während andere dabei sind, kann ich es auch leicht für dich einrichten, daß dir niemand auf die Finger guckt. Ich weiß nicht, was für ein Instrument du zu Hause hast...«
»Einen sehr alten Blüthner«, sagte ich, »aber er ist schön, er müßte nur einmal gestimmt werden, aber dafür haben meine Eltern kein Geld übrig.«
»Komm doch mal zu mir zum Üben, wirklich, ich würde mich freuen, und sonst organisiere ich mal einen Musikabend, da bitte ich Alice, bitte ich noch andere Bekannte, und da lade ich dich auch ein. Hättest du dann Lust zu kommen?« »Nun, äh...«
»Sehr entgegenkommend bist du nicht. Na, auf Wiedersehen!«
Er eilte davon, überquerte die Straße, ging zum Havenplein. Hastig rannte ich über die Bahnschienen. Als ich im Hoofd war, blickte ich mich noch einmal kurz um. Auf dem Havenplein stand Minderhout und schaute unverhohlen hinter mir her.
Blüthner
Nach dieser kurzen gemeinsamen Wanderung unter den Platanen begegnete ich Minderhout beinahe jede Woche wohl ein- oder zweimal, wenn ich in der Stadt war. So oft hatte ich ihn in all den vo rangegangenen Jahren doch nicht getroffen? Oder achtete ich jetzt mehr darauf, kam es, weil es jetzt selbstverständlich geworden war, daß wir einander grüßten? Manchmal sagte er sogar im Vorübergehen: »Wenn du irgendwann mal bei mir spielen willst - du bist willkommen!« Dann nickte ich höflich und nahm mir vor, es nie zu tun. Bei einer dieser Begegnungen dachte ich: Was läuft der Mann oft durch die Straßen! Als ich ihm drei Tage später noch mal begegnete, dachte ich: Unglaublich, da geht er schon wieder, geht der Kerl denn immer spazieren, muß er denn nicht in seiner Apotheke arbeiten? Es ärgerte mich, ihn immer zu sehen und ihn immer grüßen zu müssen. Es schien, als könne ich ihm nicht ausweichen, als würde er ständig meinen Weg kreuzen. In Gedanken nannte ich ihn den »manischen Wanderer«, bis mir eines Abends, als ich im Bett lag und gerade wegdämmerte, plötzlich der Gedanke kam: Jedesmal wenn ich ihn sehe, sieht er mich auch. Jedesmal wenn ich denke: Der spaziert aber oft durch die Straßen, da ist er wieder, kann er denken: Dieser Junge spaziert aber oft durch die Straßen, immer begegne ich ihm! Wir hatten uns gegenseitig ertappt. Aber wobei? Beim Durch-die-Straßen-Schlendern? Aber das tat ich doch gar nicht?
Weitere Kostenlose Bücher