Das Wüten der ganzen Welt
Gesichter widerspiegelten, war es, als löse sich die Welt da draußen in eine graue Dämmerung auf. Und an den Rückseiten der Lagerhäuser, die einen großen Teil der Bahnlinie säumten, waren nicht einmal mehr die glänzenden Feuertreppen zu sehen. Hier und da erinnerte ein blitzendes Dachfenster daran, daß es sie noch gab. Wenn es ganz dunkel geworden war, hatte ich das Gefühl, ich wü rde ewig unterwegs bleiben. Nie mehr würde ich ankommen, nichts konnte mir mehr etwas anhaben, ich existierte nicht mehr, war ich doch in jedem Augenblick an einem anderen Ort und dadurch nicht mehr zu erreichen. Manchmal fiel Nieselregen gegen die Fenster, und dann sah man nur noch ein endloses, graues Halbdunkel. Manchmal war es Sprühregen, und dann war es beim Aussteigen, als löse man sich in Nebel auf.
Doch immer kam man an und fuhr wieder ab, und immer geschah das zu im voraus festgelegten Zeiten. Dadurch konnte die Zeit nicht unbemerkt verstreichen. Jede Minute zählte, verwies auf den Moment, in dem die Züge irgendwo ankommen oder von irgendwo abfahren würden. Doch während des Fahrens war es, als würde die Zeit selbst aufhören zu sein; es gab sie erst wieder bei der Ankunft oder der Abfahrt. Dazwischen wurde Zeit zu Bewegung. Da ein solcher Nachmittag in Reise- und Wartezeit eingeteilt war, schienen die Minuten Stunden und die Stunden Ewigkeiten zu sein. Die Nachmittage, an denen ich Bahn gefahren bin, erscheinen mir als die längsten und die am besten ausgenutzten Nachmittage meines Lebens. Als ich bei Nietzsche über die »ewige Wiederkehr« las, kamen sofort diese Nachmittage zurück, sah ich mich selbst vor Ewigkeiten »bahnfahren« und es in Ewigkeit wiederholen.
An einem der Nachmittage, wenn ich mich richtig erinnere, war es sogar der letzte Nachmittag (oder ist das nicht möglich, ist das fast zu symbolisch?), stieg ich, nachdem ich bei dem summenden Gasofen unregelmäßige englische Verben gelernt hatte, in den Zug, der mich an dem Tag endgültig nach Hause befördern sollte. Es war Hauptverkehrszeit, der Zug war voll besetzt. Auf der Suche nach einem Sitzplatz lief ich durch den Gang. Ich kam an einem Abteil vorbei, in dem ich Apotheker Minderhout sitzen sah. Ihm gegenüber saß ein kräftiger Mann mit einem gewaltigen schwarzen Bart. Er sah mich kurz an, ich sah ihn kurz an, und ich sah, daß er seine Augenbrauen leicht hochzog. Es war etwas an ihm, das mir vage bekannt vorkam, und doch wußte ich absolut nicht, wo ich den Mann schon einmal gesehen hatte. Er war allerdings auch nicht viel mehr als ein Schemen unter diesen Sparglühbirnen. Im Abteil dahinter war noch ein Platz frei, und dort setzte ich mich hin. Der Zug fuhr noch nicht, und ich hörte Minderhout sagen: »Es tut mir sehr leid. Wie ich dir schon gesagt habe, war es eine tote Spur. Die Frau, um die es ging, lebt zwar noch, das stimmt also, die Information war richtig, aber sie ist nicht mehr bei klarem Verstand. Sie hat, scheint es, nur noch ganz selten einen hellen Augenblick, ja, du kannst kaum den ganzen Tag bei ihr sitzen bleiben, bis sich das ereignet - und selbst wenn: Woran erinnert sie sich in einem solchen Augenblick? Was hat sie gesehen? Du kommst nicht dahinter, und die Ecke, wo das alles passiert ist, wurde Anfang '45 völlig ausgebombt. Als einziges habe ich erfahren, daß sie mit einer dubbele hit weggezogen sind. Nun spür mal so eine langbeinige Mähre auf! Das Tier ist längst tot. Verrückt eigentlich, daß eine alte, kindisch gewordene Frau eine solche Einzelheit noch so genau weiß: Daß es eine hit war, kein Füllen, kein Pony, keine Stute, kein Hengst, nicht nur eine Mähre, sondern eine dubbele hit, eine langbeinige Mähre. Es ist zum Verrücktwerden. Nun ja, der einzige, der vielleicht auch noch etwas wüßte, ist... Ich verstehe das überhaupt nicht, das hätte doch niemals passieren dürfen.«
»Womit du recht hast, aber...«
»Gut, natürlich, dumm, hier davon anzufangen, nun ja, es kann nichts passieren, du fährst durch bis Hoek, und in ein paar Stunden sitzt du auf dem Schiff nach Harwich... Was... was sagst du da... allmächtiger Gott, hättest du das früher gesagt...«
Minderhout seufzte. Der Mann ihm gegenüber sagte: »Weißt du, was ein wirklich prachtvolles Stück ist? Die dritte Symphonie von Roy Harris. Ich spiele sie nächste Woche in Detroit.«
»Oh, fährst du nach Detroit?«
»Ja, und von dort direkt nach Hause.«
»Wie geht es deinen Töchtern?«
»Die Große hat Gold in der Kehle, und die
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