Das Wüten der ganzen Welt
dann die ganze Reihe der Söhne Jakobs, die Ältesten sind schlecht, die Jüngsten, Joseph und Benjamin, sind gut. Und als die Israeliten aus Ägypten fortziehen, tötet Gott alle Erstgeborenen. Was hat Gott eigentlich gegen Erstgeborene? Das zieht sich durch die ganze Bibel. Das findest du sogar im Neuen Testament, denk nur an das Gleichnis vom verlorenen Sohn. Der ist auch wieder der Jüngste. Für ihn wird das gemästete Kalb geschlachtet. Und der Älteste? Nun ja, du weißt es selber.«
Da liefen wir, die Sonne strahlte über den Fluß, Segelschiffe glitten lautlos vorbei, und von diesem Nachmittag ist mir vor allem in Erinnerung geblieben, daß Herman alles Interesse an der Ermordung Vroombouts verloren zu haben schien. Spielte mir auch damals meine Unbedarftheit einen Streich, oder war ich zu jung, um zu vermuten, was ich jetzt, nach so vielen Jahren, für wahrscheinlich halte? Offensichtlich hat seine Mutter ihm nach der Szene im Erker, bei der sein Bruder leichenblaß weglief, am späteren Abend, nachdem ich gegangen war, gerade so viel über den Tod Vroombouts erzählt, daß seine Neugier befriedigt war. Und dann hat sie ihn beschworen, mit niemandem darüber zu sprechen. Oder hat sie ihm nichts erzählt, sondern ihm schlichtweg verboten, jemals auch nur ein einziges Wort wieder darüber zu verlieren?
An jenem Sommernachmittag fand unsere unklare Freundschaft ein vorläufiges Ende. Als ich im September aufs Gymnasium kam, war es undenkbar, daß er, der so viele Klassen über mir war, es sich erlauben konnte, mit mir umzugehen. Auf der höheren Schule bist du nicht mit Jungen zusammen, die eine Klasse unter dir sind, geschweige denn mit Jungen, die drei Klassen tiefer sind. Wenn er mir auf dem Platz, auf dem wir in der Pause unsere Runden drehten, entgegenkam, ging er, ohne Gruß, ohne ein Zeichen des Erkennens, an mir vorüber. Das machte mir nichts aus. Es war selbstverständlich, es hätte nicht anders sein können. Er war der Sohn meiner Klavierlehrerin, nicht mehr, nicht weniger, und wenn ich am Samstag nachmittag die frühen Sonaten von Beethoven spielte, war er selten zu Hause.
Bahnfahren
An sonnigen Spätsommertagen war die lange Radtour zum Gymnasium geradezu ein Sonntagsausflug. Selbst wenn es zwischendurch regnete, war sie nicht unangenehm, zumindest dann nicht, wenn man den Wind im Rücken hatte. Bei schneidendem Gegenwind mußte ich mich manchmal auf die Pedale stellen. Aber nur manchmal; viel häufiger mußte ich an die Bibelstelle denken: »Gott suchte Moses zu töten.« In den Niederlanden weht es fast immer, und selten aus einer anderen Richtung als Südwest, aber es stürmt nicht öfter als etwa zehnmal im Jahr. Und jeder, der täglich radfährt, weiß - auch wenn oft anderes behauptet wird -, daß es in Holland sporadisch regnet. Ein richtiger Regenguß, Platzregen, eine Sturzflut, wobei die Luft tintenschwarz wird, die Rinnsteine übermütig gurgeln und die Dachrinnen überlaufen - ach, ein solcher Wolkenbruch ist ebenso selten wie eine harmonische Stelle im Werk von Berlioz! Denk ich an meine Gymnasialzeit, dann sehe ich mich radfahren, morgens in aller Frühe zur Schule, mittags gut gelaunt zurück nach Hause. Einmal in all den fünf Jahren bin ich durch ein Schneegestöber nach Hause geradelt. Und in einem einzigen der fünf Winter sackte die Temperatur im Februar zwei Wochen lang weit unter den Gefrierpunkt. Als die Frostperiode richtig einsetzte, fuhr ich mit zwei Paar Socken übereinander zur Schule. Zwischen die beiden Paar Socken schob ich je eine Plastiktüte über meinen rechten und meinen linken Fuß. Dennoch kam ich, als ich Anfang Februar an einem Freitagmorgen bei minus fünfzehn Grad von zu Hause losfuhr, mit leichten Erfrierungserscheinungen in der Schule an. Der Schularzt schrieb einen bitterbösen Brief an meine Eltern. Und am darauffolgenden Montag gab mir meine Mutter - nein, ich muß sagen: überreichte, denn es geschah in einer ruppigen Zeremonie und mit dem Ausruf: »Hier, das hab ich deinem Vater aus den Rippen geschnitten« - 8,90 Gulden. Für den Betrag konnte ich das kaufen, was man heute eine Monatskarte nennt, aber damals schlicht und einfach Abonnement hieß.
Einen Monat lang fuhr ich mit der Bahn zur Schule. So selten hatte ich damals im Zug gesessen, daß ich jede Fahrt wie eine Pilgerreise empfand. Schon an diesem ersten Montag konnte ich mich, als ich nach der Schule wieder auf dem Bahnsteig stand, von dem ich morgens abgefahren war, nicht
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