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Das Wüten der ganzen Welt

Das Wüten der ganzen Welt

Titel: Das Wüten der ganzen Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maarten 't Hart
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entschließen, den Bahnhof zu verlassen. Durfte ich nun wieder zurückreisen? Oder würde ein Kontrolleur sagen: »He, mein Junge, du hast heute morgen schon im Zug gesessen, du bist schon hin- und zurückgefahren!« Mit klopfendem Herzen stieg ich auf der gegenüberliegenden Seite des Bahnsteigs in den Zug, der schon für eine neue Hinreise bereitstand. Wir fuhren ab, ein Kontrolleur kam vorbei, sah flüchtig auf mein Abonnement und sagte nichts. Ich holte meine Hausaufgaben aus der Tasche. Mit rotem Kopf lernte ich meine FranzösischVokabeln, und ich merkte, daß das regelmäßige Geräusch des fahrenden Zugs mein Gedächtnis für die Vokabelreihen empfänglicher machte. Es war, als springe bei jedem Ruck über die damals noch nicht verschweißten Schienen ein Wort in mein Gedächtnis.
    Wir fuhren in den Bahnhof ein, wo ich am selben Tag schon einmal ausgestiegen war. Wieder stieg ich aus. In zwanzig Minuten würde der Zug abfahren, der mich nach Hause bringen sollte. Ich ging in den Warteraum. Dort war es warm und still. Es war niemand da. Ein Gasofen summte gutmütig. Ich setzte mich daneben und lernte Jahreszahlen.
    So reiste ich einen ganzen Nachmittag hin und her, und niemand wunderte sich darüber. Niemand stellte Fragen. Zwar sah ich in den Zügen und auf den Bahnsteigen immer dieselben Gesichter der Kontrolleure und Bahnhofsvorsteher, die damals noch ihren Dienst taten, und Wagenmeister, die mit schweren Hämmern gegen die Eisenbahnräder schlugen. Es schien, als sähen sie mich nicht; es schien, als ob jener Oberkontrolleur mit seinem roten Band, der an diesem Nachmittag dreimal achtlos auf mein Abonnement blickte, es nicht einmal bemerkte, daß ihm dies ständig von demselben Jungen gezeigt wurde. Es war, als reise nur ein gültiger Fahrausweis hin und her, ein Fahrausweis, zu dem noch gerade eine Hand gehörte, dessen Eigentümer aber nicht betrachtet zu werden brauchte. Es war, als hörte ich auf zu existieren.
    Es waren alte Doppelwaggons, in denen ich die Reisen unternahm, Züge mit knarrenden Gepäckablagen und klappernden Zwischentüren, mit Dritter- und Zweiter-Klasse-Wagen. Wie schade, daß später aus der zweiten und dritten Klasse die erste und zweite Klasse wurden, wodurch das befremdliche Fehlen einer ersten Klasse - etwas, was mich als Kind faszinierte - für immer Vergangenheit wurde. Um vier Uhr gingen in den Abteilen die Sparlämpchen an. Man konnte kaum dabei lesen. Und doch: Wie gern würde ich wieder eine Fahrt in einem solch alten Zug machen. Wie gern würde ich diese Geräusche wieder hören, dieses Knirschen und Knarren und das Rumpeln der Räder dort, wo die Schienen nicht verschweißt waren. Wie unaussprechlich gern würde ich diesen typischen Geruch der Dritter-Klasse-Wagen wieder riechen, einen Geruch, dessen hauptsächliche Bestandteile Zigarettenrauch und Schmieröl waren. Doch es kam etwas hinzu, etwas, das nicht zu benennen ist, aber wichtig war: Das war jener intensive Eisenbahngeruch, ein Geruch, den man nur eine Sekunde lang riechen müßte, um wieder ganz in diese klappernden, glückseligen Pilgerfahrten einzutauchen.
    Was ich damals tat, nannte ich einfach »Bahnfahren«. Einen Monat lang fuhr ich jeden Nachmittag, wenn die Schulstunden schon um zehn nach halb eins oder halb zwei vorbei waren, bis Viertel vor sechs so oft wie möglich zwischen meinem Wohnort und der Stadt, in der ich zur Schule ging, hin und her. Ich dachte, daß ich nicht der einzige sein könnte, der das »Bahnfahren« erfunden hatte. Nie jedoch sah ich andere Schüler des Gymnasiums ganze Nachmittage hin- und herfahren. Offensichtlich war ich der einzige, der davon »high« wurde, obwohl ich sicher nicht der einzige war, der ein Abonnement hatte. Aber vielleicht bin ich in all den Jahren der einzige gewesen, der es nur einen Monat lang besaß, vielleicht erklärt das, weshalb ich wie besessen hin- und herpendelte. Wie dem auch sei: Auf jeden Fall konnte ich in diesen warmen Zügen im Licht der Sparlampen meine Hausaufgaben viel schneller machen als zu Hause in meiner ungeheizten Dachkammer. In den großen, fast immer leeren Warteräumen der Bahnhöfe konnte ich bei den summenden, manchmal seufzenden Gasöfen mühelos meine Algebraaufgaben lösen. Und unterwegs half mir der Wechsel zwischen Halten und Fahren, schwere Wörter zu wiederholen.
    Oh, diese unvergeßlichen, endlosen Nachmittage! Vor allem, wenn die trübseligen Glühbirnen im Gang aufleuchteten und dadurch die Zugfenster nur noch vage unsere

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