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Das Wüten der ganzen Welt

Das Wüten der ganzen Welt

Titel: Das Wüten der ganzen Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maarten 't Hart
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die Spatzen unter den Dachpfannen hin und wieder störten. Von dem Sessel aus konnte ich, wenn ich mir die Mühe machte und den Kopf drehte, den ganzen Dachboden überschauen. Es war nur zu dunkel, um alles genau betrachten zu können. Daher stand ich wieder auf. Irgendwo mußte ein Lichtschalter sein. Ich tastete mich an den Dachbalken entlang, fand ihn schließlich und machte Licht, und alles, was dort stand, warf auf einmal erstaunlich viele Schatten. Alle diese Schatten ängstigten mich, und ich lief zur Bodentreppe, überlegte dann, daß ich in jedem Fall das Licht ausmachen mußte, bevor ich nach unten ging. Oder war unten auch ein Lichtschalter? Doch danach wollte ich jetzt nicht suchen. Ich lief zurück, um das Licht auszuschalten, und sah dabei, daß es noch einen kleinen Seitenspeicher gab. Verblüfft starrte ich in das eigenartige, unerwartete Eckchen. Dort war sogar ein Dachfenster, und quer durch diesen Seitenspeicher war eine Stange angebracht, an der Bügel mit alten Kleidern hingen. An einer Garderobe, links von der Stange, hingen Hüte, und ich lief darauf zu und probierte sie einen nach dem anderen auf. Warum? Was ist das für ein eigenartiger Drang, sein Aussehen schon allein mit nichts als einem Hut immer wieder zu verändern? Und warum gab es, nachdem ich die Hüte einen nach dem anderen aufprobiert hatte, auch noch die Versuchung, die Mäntel, die dort hingen, anzuziehe n? Doch hätte ich weder Hut noch Mantel erkannt, wenn die Krawatte nicht daneben gehangen hätte. Eine Krawatte, wahrlich nicht mit »wimmelnden weißen Bohnen«, kein Schlips, sondern eine Krawatte, die man als Schal benutzt. Es war eine ganz normale Krawatte mit dunklen Karos, aber dennoch war ich, als ich sie über dem Mantel hängen sah, fast sicher, daß dies das Halstuch sein mußte, das sich Vroombouts Mörder vor den Mund gehalten hatte. Nochmals besah ich die Hüte. Von den sechs, die dort hingen, glichen zw ei dem Schlapphut, den ich an jenem Samstagnachmittag nur kurz gesehen hatte. Und da waren allein drei Mäntel, die dem einen unauffälligen Mantel des Mörders glichen.
    Mit dem Halstuch, den beiden Hüten und den drei Mänteln stieg ich die Bodentreppe hinunter. Vor dem riesigen Spiegel probierte ich alle Kombinationen aus. Sehr schnell zeigte es sich, daß es nicht viel ausmachte, welchen Mantel ich anzog oder welchen Hut ich aufsetzte. Mit jedem Mantel und jedem Hut schien ich, wenn ich den Schal genau so vor meinen Mund hielt, wie es der Mörder getan hatte, so sehr das Ebenbild des Mannes zu sein, den ich nur flüchtig gesehen hatte, daß ich lange nur in den Spiegel starren konnte. Warum war ich dem Mann zum Verwechseln ähnlich? Dieselbe Haltung? Weil ich schon so lächerlich groß war? Oder lag es an der Gebärde, mit der ich mir den Schal vor den Mund zu drapieren wußte? Angespannt belauerte ich mein Spiegelbild, bis mir die Augen tränten, und versuchte, dahinterzukommen, was mich zu seinem Doppelgänger machte. Bis ich dachte: Aber jeder kräftige Mann, dem du einen so großen Hut aufsetzt und einen solchen langen Regenmantel anziehst und ihn sich dann noch einen Schal vor den Mund halten läßt, sieht dem Kerl zum Verwechseln ähnlich, es ist Unsinn zu denken, daß ich ihm zum Verwechseln ähnlich sehe, und es ist auch Unsinn zu meinen, daß es dieser Schal war und einer von diesen Hüten und einer von diesen Mänteln. Von solchen Schals gibt es Tausende und von solchen Mänteln und Hüten auch, und du kannst Gift darauf nehmen: Wenn man einen solchen Schal, Hut und Mantel anzieht, um einen Mord zu begehen, dann hängt man diese drei Sachen hinterher nicht ganz normal wieder auf den Dachboden, also können dies nicht Schal, Hut und Regenmantel des Mörders gewesen sein. Lächerlich, das zu denken. Es sind Allerweltskleider. Man kann sie in jedem Herrenmodegeschäft finden. Merkwürdig nur, daß sie hier bei Minderhout auf dem Speicher hängen. Der ist doch viel zu schmächtig, um einen so langen Mantel zu tragen? Sollten es Kleider von diesem Vater sein, von dem er immer spricht?
    Als ich viel später an diesem Abend über eine neblige Havenkade nach Hause lief, zitterte ich die ganze Zeit. Im Hafen fuhr ein Ölschiff mit gelbroten, runden Fässern an Deck vorbei, und die Zeiger der Turmuhr waren rot erleuchtet, also war alles so, wie es sein sollte. Und als ich zum Bahnübergang kam, gingen die Schranken herunter, und ich mußte warten, bis ein Zubringerzug zur Fähre schrill pfeifend auf den Schienen

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