Das Wüten der ganzen Welt
Berdjajew. Ein Bord weiter sah ich ein Büchlein: Die Zukunft des Unglaubens von G. Szczesny, und daneben glänzten auf einem ledernen Prachtband golden die Buchstaben: Bibel.
»Siehst du wohl«, rief ich, »siehst du wohl.«
Vorsichtig zog ich die Briefe von Rosa Luxemburg aus dem Schrank. Mir kam es damals noch sehr merkwürdig vor, daß ein Buch einen Titel wie Briefe tragen konnte, und ich wollte nachsehen, ob wirklich Briefe darin abgedruckt waren. Es waren tatsächlich Briefe darin, und ich blätterte und las: »Nur die Krawatte, die Krawatte mit den wimmelnden weißen Bohnen, die den Blick förmlich faszinieren! - so eine Krawatte ist ein Scheidungsgrund. Ja, ja, die Weiber - bei dem erhabensten Geist bemerken sie vor allem die Krawatten...«
Verblüfft stellte ich das Bändchen zurück. Briefe - ein Buch mit Briefen! Auch alle die Bücher über Philosophie erstaunten mich. Was machte man damit, was hatte man davon? Ich mußte Minderhout bei Gelegenheit danach fragen.
Neben den philosophischen Werken standen riesige Fotoalben, und auch in denen blätterte ich. Es waren vor allem Kinderfotos von seiner Frau. Viel klüger wurde ich nicht dadurch, ebensowenig vom Herumschnüffeln in ihrer Küche. Aber nachdem ich mich in der Küche umgesehen hatte, war es, als wenn ich nun auch noch den Rest des Hauses ansehen müßte. An jenem Abend schlich ich mich vom Vorderzimmer ins Hinterzimmer und in die Küche, und von der Küche in den Wirtschaftsraum, und vom Wirtschaftsraum in den zweiten Stock. In ihrem Schlafzimmer standen zwei Betten direkt nebeneinander. Schlafen sie denn nicht in einem Doppelbett? fragte ich mich erstaunt. Wenn man verheiratet war, mußte man mit einem hittepetitje oder einem mokkel in einem Doppelbett schlafen. Das war etwas Selbstverständliches, es hatte mich aber seit eh und je so abgeschreckt, daß ich, lange bevor Gott mich im Schwimmbad zu töten suchte, beschlossen hatte, niemals zu heiraten. Aber lits jumeaux - davon hatte ich zu der Zeit noch nie gehört, und so brachte der Anblick meinen Entschluß ziemlich ins Wanken.
Also drang ich in ihre Welt ein. Fast alles, was ich sah, überraschte mich. Die unerhört vollen Kleiderschränke, die vielen Mittel und Mittelchen auf der Glasablage über ihrem Waschbecken und auch das Waschbecken selbst: ein Luxus, der in der President Steynstraat nicht anzutreffen war, wo noch das Gesetz der Katzenwäsche galt. Und vielleicht war ich am allermeisten über den riesigen Spiegel verblüfft, der zwei Meter breit war und vom Fußboden bis zur Decke reichte.
Bei jedem Schritt, den ich tat, und bei allem, was ich berührte - und das ist etwas Eigenartiges: Man will während eines solchen Erkundungsgangs fast alles, dem man begegnet, berühren -, hatte ich das Gefühl, daß ich mich schuldig machte. Und doch konnte ich mich, nachdem ich den zweiten Stock ganz angesehen hatte, nicht dazu durchringen, den Dachboden auszulassen.
Drohend schlug die Turmuhr, draußen startete ein Motorroller. Ich hörte Stimmen, wartete, bis ihr Klang verhallt war, und stieg dann die Treppe zum Dachboden hinauf. Es war ziemlich dunkel dort. Ich erschrak über raschelnde Geräusche, murmelte, um mich zu beruhigen, vor mich hin: »Spatzen unter den Dachpfannen, die sich noch einmal in ihren Nestchen umdrehen.«
Ein Dachboden - ein richtiges Geschichtsbuch. Man entdeckt Stühle, auf denen die Bewohner früherer Zeiten gesessen haben. Über den Stühlen liegen, unordentlich hingeworfen, alte Gardinen. Und dort eine Stehlampe, die nie mehr benutzt werden wird. Und am Schornstein, der mitten auf dem Speicher den Fußboden gleichsam mit dem Dach verbindet, stehen, mit der Vorderseite zur Mauer gewendet, ein paar alte Gemälde. Auch bei den Minderhouts lehnten verstaubte Meisterwerke am Schornstein. Unmittelbar daneben fand ich ein uraltes Grammophon, das man noch mit der Hand aufziehen mußte und dessen Nadeln immer wieder ersetzt werden mußten. Da lagen noch 78er Platten in Papierhüllen mit kreisförmigen Aussparungen. Ich hob eine hoch. Auf dem dunkelroten Etikett stand: »Caruso singt aus La Forza del Destino von Verdi.«
Der Dachboden erstreckte sich über die gesamte Länge und Breite des Hauses. Es war ein riesiger Raum mit lauter abgelegten Sachen. Neben dem Schornstein standen zwei dunkelbraune niedrige Sessel. In einen der beiden ließ ich mich langsam niedersinken. Lange gab ich mich, zwischen den beiden Armlehnen sitzend, einem Gefühl des Wohlbehagens hin, das nur
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