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Das Wüten der ganzen Welt

Das Wüten der ganzen Welt

Titel: Das Wüten der ganzen Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maarten 't Hart
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Ich zerbreche mir den Kopf über diesen Mord. Es will mir nicht einleuchten, daß der Mörder Arend zufällig dort getroffen hat. Meiner Meinung nach waren sie dort verabredet. Minderhout, meine Mutter, Arend und der Mann, den anscheinend nur du gesehen hast. Aber warum? Sie haben natürlich nicht zu Arend gesagt: ›Komm um drei Uhr in die President Steynstraat, dann können wir dich da erschießen‹, sie haben also etwas anderes gesagt, aber was? Womit haben sie Arend in die President Steynstraat gelockt? Meine Mutter hält es ganz, ganz schlecht aus zu lügen; daher sagt sie nun auch überhaupt nichts mehr, denn lügen kann sie nicht, aber die Wahrheit sagen... Dann muß sie vielleicht in den Knast, also hält sie den Mund. Sie hat ein schlechtes Gewissen, ein sehr schlechtes Gewissen, das steht für mich bombenfest, so wie es für mich auch bombenfest steht, daß sie in ihrem tiefsten Herzen nur allzu froh ist, daß Arend tot ist... Sie wußte, daß ich... sie hat so oft zu mir gesagt: ›Ich will absolut nicht, daß du mit diesem Mann verkehrst.‹ Ich glaube, daß sie zusammen mit den anderen Arend unter irgendeinem Vorwand zur... Ja, aber es ist so unbegreiflich... wenn du jemanden ermorden willst, lockst du ihn doch nicht unter einem Vorwand an eine Stelle, wo so 'ne alberne Versammlung abgehalten wird? Dann verabredest du doch einen ruhigen Platz am Maasufer, oder du gehst einfach abends spät zu ihm nach Hause, du klingelst, er öffnet, und du schießt ihn nieder.«
    »Und zufällig kommt jemand vorbei.«
    »Bei ihm da, abends spät, in der Generaal de Wetstraat? Nun ja, möglich ist es immer, aber die Möglichkeit ist doch sehr gering. Aber wenn du jemanden bei einer solchen Versammlung...«
    »Das sagst du jetzt, aber damals ist genau das sehr wohl gelungen. Niemand hat den Mörder gesehen.«
    »Du hast ihn gesehen. Und natürlich haben Minderhout und meine Mutter ihn gesehen. Die haben extra dafür gesorgt, daß die anderen ihn nicht sahen, die haben sich so hingestellt, daß er hinter ihnen... oder was weiß ich, wie sie das geschafft haben.«
    Wir erreichten den Platz vor der Zuiderkerk. Die Seitentür war offen. Es war stockfinster im Mittelschiff. Es war niemand an der Orgel. Ich setzte mich an das Instrument, William packte seine Querflöte aus. Er sagte: »Ich habe hier eine Bearbeitung für Querflöte und Orgel der Sonatina aus der Kantate 106 von Bach. Wollen wir die mal versuchen?«
    »Ist mir recht«, sagte ich, und wir spielten, und schon nach wenigen Takten wußte ich, daß wir dafür geschaffen waren, zusammen zu musizieren. Außerdem klang die Musik, sogar in dieser Bearbeitung, als spielten wir ein nachträgliches Requiem für Vroombout.
    Er nennt ihn beim Vornamen, dachte ich, ob er wohl weiß, daß er im Krieg ein Verräter gewesen ist?
    An dem Abend haben wir die Sonatina mindestens zwölfmal gespielt. Hat Bach an jenem Abend Beethoven bei mir auf den zweiten Platz verdrängt? Oder war dieser erste Platz in jenen Tagen schon an Mozart vergeben? Macht das etwas aus?
    Als wir zum Hoofd zurückliefen, war die dunkelgraue Dämmerung in eine helle Nacht übergegangen.
    »Es ist sehr, sehr schön, mit dir zusammen zu spielen«, sagte er.
    »Machen wir öfter«, sagte ich.
    »Gern«, sagte er, »und vielleicht können wir auch zusammen versuchen, mehr über den Mord an Arend zu erfahren.«
    »Ja, aber wie? Wir können doch nicht deine Mutter und Minderhout verhören?«
    »Nein, wir müssen uns etwas anderes ausdenken.«
    Mit fest zusammengepreßten Lippen lief er eine Weile schweigend neben mir über die totenstille Havenkade. Es war Neumond, ein wolkenloser Himmel, die Nördliche Krone glänzte über dem Fluß, und ein Stück weiter hing der Große Bär. Hinter mir wußte ich die Kassiopeia, und ich fühlte mich unglaublich nichtig in dem riesigen, unermeßlichen Weltall. Es war, als würde ich, während ich zu dem glitzernden Sternenhimmel hinaufschaute, kleiner und kleiner werden. Da lief ich nun, ein Staubkorn in der Unendlichkeit; nichts hatte mein Dasein zu bedeuten, nichts auch das Dasein all der Milliarden anderer Menschen. Wir durften ganz kurz, mitten zwischen zwei Eiszeiten, ein paar Schritte auf die Erde setzen und werden, ohne eine Spur zu hinterlassen, wieder hinweggefegt, gerade so wie vor Millionen Jahren die großen Dinosaurier weggefegt wurden.
    Er murmelte: »Sie haßte ihn.« »Was? Was sagst du?« fragte ich. »Meine Mutter, sie haßte Arend, sie wußte, daß ich... daß

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