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Das Wüten der ganzen Welt

Das Wüten der ganzen Welt

Titel: Das Wüten der ganzen Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maarten 't Hart
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ich nicht, denn das ändert sich immer.«
    Nach einer solchen Viertelstunde, mit einem Glas Wein, einem Döntje über seinen Vater und vielleicht zwei Bemerkungen, die man nie mehr vergaß, war es völlig undenkbar, daß ich William, sobald Minderhout und seine Frau die Tür hinter sich geschlossen hatten, mit auf den Dachboden locken würde, um Halstuch, Mantel und Hut zu zeigen. Sogar das eine Mal, als er sagte: »Wenn man einen Baum verstecken will, muß man damit in den Wald gehen«, und William später
    - darauf zurückkam, als wir zwischen zwei Sätzen der h moll-Sonate von Bach eine Pause machten, dachte ich: Wenn man Kleider verstecken will, hängt man sie auf dem Dachboden zwischen anderen alten Sachen auf, aber ich sprach es nicht aus, obwohl William sagte: »Das müssen wir uns merken. Wenn man einen Mörder verstecken will, geht man mit ihm in eine Menschenmenge.«
    Hinzu kam auch, daß ich überhaupt nicht begreifen konnte, wie die Kleidung des Mörders im Seitenspeicher von Minderhout gelandet war. Er selbst konnte unmöglich der Mörder sein. Dafür war er viel zu schmächtig. Hatte also der Riese seinen Hut, Schal und Mantel bei Minderhout zurückgelassen? Oder stammten diese Requisiten überhaupt nicht von dem Mörder, sondern beispielsweise von seinem Vater?
    Wahrscheinlich hätte ich William nie etwas von meiner Entdeckung erzählt, wenn ich ihn nicht bei einem Vertrauensmißbrauch ertappt hätte, der mir damals jedenfalls unendlich schwerwiegender erschien als meine Dachbodenschändung.
    Minderhout hatte uns wieder einmal gebeten, aufs Haus aufzupassen. An diesem Abend jedoch sollten wir Ältestenbesuch bekommen. Mein Vater bestand darauf, mehr noch: befahl, daß ich dabeisein sollte. Dieses eine Mal mußte William also mit seiner Querflöte und Bachs Solopartita in amoll die Wohnräume über der Apotheke allein von Einbrechern freihalten.
    Um acht Uhr sollten die Ältesten zu ihrem Halbjahresbesuch kommen. Schon um halb acht warteten meine Eltern in ihren Sonntagskleidern bei einer vollen Kanne Kaffee. Mir war, sozusagen als Sondergenehmigung, zugestanden worden, meinen Sonntagsstaat im Schrank zu lassen.
    Punkt acht Uhr erschienen die beiden Ältesten. Der Abend wurde mit einem Gebet eröffnet, das vornehmlich von dem Krieg gegen Amalek handelte. Im Anschluß daran wurden wir milde zu dem befragt, was einer der Ältesten großartig »unser Glaubensleben« nannte. Danach wurden die Plus- und Minuspunkte »unserer Hirten«, wie die Ältesten unsere drei Pastoren nannten, auf eine Weise besprochen, die mich unwiderstehlich daran erinnerte, wie mein Vater zusammen mit dem Schrotthändler die Qualität einer Ladung Alteisen prüfte. Und dann, nachdem über Pastor Dercksen gesagt worden war, daß er zu pietistisch predige, wurde einem der Ältesten übel. Gestützt von dem anderen Ältesten, stolperte er durch den Gang ins Lagerhaus und dann zur President Steynstraat, und mein Vater sagte schockiert: »Sie haben nicht einmal ein Dankgebet gesprochen.«
    Es war zehn nach halb neun. »Ich geh noch kurz zu William«, sagte ich, »der paßt bei Minderhout auf.«
    »Na, dann geh schon«, sagte mein Vater.
    Keine zehn Minuten später war ich am Markt. Ich wollte klingeln, sah aber, daß die Tür angelehnt war. Ich stieß sie auf, ging hinein, rief: »William.« Niemand antwortete. Schnell rannte ich die Treppe nach oben. William war nicht im ersten Stock. Er war ebensowenig im zweiten Stock oder auf dem Dachboden. Erstaunt rannte ich ein paarmal die Treppen rauf und runter, immer »William, William« rufend. Ziemlich beunruhigt setzte ich mich schließlich an den Bösendorfer und spielte die einleitenden Takte der Es-dur-Sonate von Bach. Es war, als könnte ich ihn damit zu seinem Einsatz auf der Querflöte herbeirufen. Als die Flöte jedoch nicht einsetzte, nahm ich die Hände von den Tasten und wartete. Nach einigen Minuten hörte ich seinen Schritt auf der Treppe. Hastig lief ich aus dem Zimmer. Im Treppenhausflur trafen wir einander. Ich erkannte ihn übrigens nicht sofort. Er mich natürlich sehr wohl, und er stand dort, zu Tode erschrocken, wie man sagt, und starrte mich an. »Du hier«, keuchte er, »was tust du hier?«
    Offensichtlich hatte ich den Presbyterbesuch noch so frisch in Erinnerung, daß ich zu nichts anderem fähig zu sein schien als zu einem wiederholten: »Jesus Christus, Jesus Christus.«
    Wir standen da und sahen uns nur an. Er zuckte immer wieder mit den Schultern, sagte

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