Das Wüten der ganzen Welt
ich...«
»Ja, so was deutetest du vorhin schon an«, sagte ich.
»Sie hat mich oft genug spüren lassen, daß sie ihn, um mich aus seinen Klauen zu retten, nur allzugern ermorden würde.«
»Na ja,«, sagte ich, »so was kannst du vielleicht schon mal sagen, aber so etwas auch wirklich zu tun, das ist etwas völlig anderes.« »Und doch hat sie etwas damit zu tun. Aber was...?«
Sackgasse
Wenn seine Mutter woanders Unterricht gab, musizierten wir in jenem Sommer an den langen, hellen Abenden zu Hause bei William. Waren die Tage stickig und heiß gewesen, gingen wir in die kühle Zuiderkerk. Wir spielten auch einige Male über der Apotheke, um sie vor Einbrechern zu schützen. Im letzten Fall erschien es mir als selbstverständlich, daß ich mit William auf den Dachboden gehen würde, um ihm zu zeigen, worauf ich dort gestoßen war. Und doch konnte ich mich in dem ganzen langen, heißen Sommer nicht dazu entschließen. Das Wort des Herrn lautete ja: »Wehe dir, Verräter, der du selber nicht verraten wurdest; wenn du bereit bist zu verraten, wird man dich verraten.« Außerdem: Daß ich da im Haus herumgeschnüffelt hatte, erschien mir als grober Vertrauensmißbrauch. Würde ich ihn auf den Seitenspeicher mitnehmen, bekannte ich damit gleichsam, daß ich zu so etwas fähig war. Bislang wußte Gott sei Dank nur ich selbst, wie unzuverlässig ich war.
Hinzu kam, daß Minderhout uns immer außerordentlich herzlich empfing, wenn wir nach unserem Weg über die Havenkade bei ihm ankamen. Wenn er uns dann etwas einschenkte - und da seine Frau sich noch zum Ausgehen fertig machen mußte, war dazu immer Zeit -, bedauerten wir bereits alle Pläne, die wir unterwegs gemacht hatten, um ihn mit List oder Fangfragen über den Mord an Vroombout auszuspionieren. Wir tranken ein Glas Wein mit ihm, und wir hörten uns seine törichten - oder waren es weise? - Ratschläge an. Das eine Mal sagte er: »Wenn eine Frau neben dir geht und setzt dabei die Füße nach außen, hat sie Gelüste«, und das nächste Mal gab er folgende Variante: »Wenn eine Frau in deiner Gegenwart ein
n paarmal niest, will sie mit dir i s Bett.« Oder er erzählte von seinem Vater.
»Mein alter Herr ging zum Konfirmandenunterricht. Die ersten Kapitel der Genesis waren dran. Nun, er liest das zu Hause alles noch einmal durch und fragt das nächste Mal: ›Herr Pastor, Kain heiratet, steht da. Wen heiratete er denn?‹ Und der Pastor sagt: ›Eine Tochter von Adam und Eva, das ist gar nicht anders möglich.‹ ›Nein‹, sagte mein Vater, ›das geht nicht anders, aber das bedeutet, daß Eltern ihrer Tochter die Zustimmung gaben, den Mörder ihres Bruders zu heiraten. Was für großzügige Menschen! ‹«
Nach einer solchen Geschichte lachte Minderhout so ansteckend, daß wir, auch wenn es etwas weniger witzig war, mitlachen mußten. Aber meistens waren die Geschichten über seinen Vater kleine, wunderliche Fabeln. So erzählte er: »Mein alter Herr wollte gern lernen, öffentlich zu sprechen. Daher ging er als Schlagzeuger in ein Orchester. Er saß ganz hinten, konnte sich so schon daran gewöhnen, daß er Publikum vor sich hatte, und doch hatte er noch einen schützenden Zaun von Orchesterleuten dazwischen. Dann sagte er, als er nach Hause kam: ›Und nun muß ich noch lernen, dem Publikum direkt in die Augen zu schauen.‹ Das äußerte er auch bei Orchesterproben, und da schlug ihm jemand vor: ›Weißt du, was du machen mußt? Wenn du aus dem Bahnhof kommst, sieh den Leuten gerade in die Augen!‹ Nach diesem Ratschlag kam mein Vater untröstlich nach Hause. Fragten wir: ›Was ist los?‹, sagte er: ›Hier bei uns im Dorf gibt es keinen Bahnhof.‹«
Oft wurde in diesen Gesprächen, sozusagen als Fortsetzung der Geschichten über seinen Vater, beiläufig auf die fehlenden Söhne und Töchter angespielt. »Gut daß wir keine hübsche Tochter in eurem Alter haben, dann wäre es bald aus mit eurer Freundschaft.« Und wie gut erinnere ich mich, daß er einmal murmelte: »Wir haben schon einmal daran gedacht, ein Kindchen aus Indonesien zu adoptieren, aus Ambon oder Celebes zum Beispiel.« In dieser Viertelstunde warf er nur so mit Aphorismen um sich. »Lust und Last unterscheiden sich nur durch einen einzigen Buchstaben.« Und wie es kam, daß wir einmal über Lebensalter sprachen, weiß ich nicht mehr, aber ich erinnere mich, daß er sagte: »Mein Geburtsdatum kann ich wohl behalten, denn das verändert sich nicht, aber wie alt ich bin, weiß
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