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Das Wüten der ganzen Welt

Das Wüten der ganzen Welt

Titel: Das Wüten der ganzen Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maarten 't Hart
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Fäusten« nach Hoek gerudert hatte? Da mußte ich doch mal nachfragen.
    Es war sonnig und zugleich neblig, wie es nur im September sein kann. Nebel und Sonnenlicht wetteiferten miteinander, und von diesem Wettstreit profitierten wir alle, die dort in dem mit Händen zu greifenden, warmen Sonnenlicht spazierengingen, als seien wir Halbgötter, die eine Hauptrolle in einer Sage spielten. Vor mir sah ich, umspielt von perlendem Septembersonnenlicht, den sinkenden Heringskutter. Am Achtersteven, der noch aus dem Wasser herausragte, klammerte sich der Schiffer an der Reling fest, weil er nicht von Bord gehen wollte. Ja, aber es war einer von hier, dachte ich, so ein Schipper vom Waterweg, na, geh mal davon aus, daß der auch von Bord gegangen ist; so einer ist viel zu nüchtern für einen Heldentod. Nein, der ist zweifellos auch ins Boot gesprungen. Warte, Varekamp hat seinen Namen schon mal genannt, es war... wer war es doch gleich? War es nicht Vroombout? Na also, siehst du wohl, der ist auch mit zurückgefahren, genau wie natürlich sein Bruder. Sein Bruder? War der denn damals noch nicht bei der Polizei? Nein, der gehörte auch zur Schiffsbesatzung, der konnte wohl kaum stellvertretend für seinen Bruder an Bord bleiben und mit untergehen, der mußte natürlich mit zurück, denn es war Gottes Wille, daß er in unserem Lagerhaus erschossen werden sollte.
    So meditierend und Bach summend, lief ich wie ein Halbgott durch das wunderbare Licht. An den Sträuchern in den Vorgärten der Fenacoliuslaan hatten unsichtbare Spinnen überall riesige Gewebe aufgehängt, deren Fäden mit Perlen besetzt waren. Eines der Spinnengewebe verband sogar zwei Sträucher miteinander, und zappelnde Fliegen, die ebenfalls mit kleinen Wasserperlen verziert waren, hingen darin.
    Am Bahnübergang traf ich Douvetrap, der dort mit seinem Söhnchen spazierenging.
    »Schönes Wetter heute«, rief ich.
    »Ja, könnte schlechter sein«, rief er.
    »Wie geht es mit den Ermittlungen?«
    »Es ist ein Auf und Ab«, sagte er, »aber im Augenblick mehr ein Ab, wir kommen keinen Schritt vorwärts. Um die Wahrheit zu sagen: Wir haben sie eingestellt. «
    Erst als ich an ihm vorbei war, fiel mir ein: auch ein Zufall. Meine Klavierlehrerin und Vroombout waren 1940 zusammen auf einem Heringskutter, und Jahre später wird er ermordet, und sie hört, zehn Meter von ihm entfernt, einem Missionar zu. Oder sollte... oder sollte... ist das der Grund, warum Douvetrap denkt, daß sie auf die eine oder andere Weise in den Mord verwickelt
    a ist? Einen Augenblick l ng erwog ich, zurückzugehen und ihn zu fragen, aber als ich mich umblickte, sah ich, daß er sein »wah, wah« schreiendes Söhnchen davon abzuhalten versuchte, einen Hundehaufen aufzusammeln. Außerdem erschien es mir unwahrscheinlich, daß zwischen einer tragisch endenden Schiffsfahrt im Jahr 1940 und einem Mord im Jahr 1956 eine Verbindung bestehen sollte, daher setzte ich lieber meinen Weg fort. Dennoch ging mir - außer der kleinen Melodie von Bach - den ganzen Nachmittag im Kopf herum: Auch ein Zufall, Vroombout und Alice saßen 1940 im selben Kutter.
    Gleich nach dem Abendessen lief ich in die Cronjéstraat. Dort standen alle vorderen Haustüren offen, und die Bewohner saßen neben den Türen auf Küchenstühlen vor ihren Häusern, um »frische Luft zu schnappen«. Man hörte das Gemurmel der Stimmen, doch fehlte unter ihnen der schrille Klang von juffrouw Varekamp und der gemütliche Baß von Vater Leen. Ihre Haustür war geschlossen. Aus dem Briefkasten hing jedoch die doppelte Schnur. Wie lange war es her, daß ich dort zum letztenmal die Zeitung geholt hatte? Schon sechs Jahre? War es schon sechs Jahre her, daß mein Vater beschlossen hatte, sogar die Hälfte eines Abonnements sei ihm noch zu teuer?
    Im Hausflur hing noch immer die säuerliche Fischluft. Im Wohnzimmer erwartete mich ein vertrautes Bild. Auf sechs Stühlen hingen sechs stöhnende Varekamps. Auf ihren Stirnen lagen nasse Waschlappen. »Du kommst wie gerufen«, stöhnte Varekamp. Ich wechselte einen Waschlappen nach dem andern. Danach verließ ich auf Zehenspitzen das Haus, in dem soviel gemeinsame Pein gelitten wurde.
    Am nächsten Tag trotzte ich sofort nach dem Abendessen ein weiteres Mal der säuerlichen Luft. Das Wohnzimmer war leer, aber auf dem Höfchen hinter dem Haus waren einige Varekamps versammelt. Ich durchquerte die Küche. Vater Varekamp setzte gerade ein weißes Kaninchen in einen kleinen Stall zurück und holte aus

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