Das Wüten der ganzen Welt
wenig zu vergeben war und von Verstehen keine Rede sein konnte, weil er nicht fähig war zu glauben, daß wir keusch nebeneinander auf dem Badetuch gelegen hatten, weckte seine noble Großmütigkeit in mir Ärger, Unwillen, sogar Wut. Indem er uns immer wieder vergab, stempelte er uns immer wieder als Lügner ab. Und daß wir seiner Ansicht nach Lügner waren, vergab er uns auch! So viel Großmütigkeit, das war niederschmetternd. Oder tat er nur so, als würde er uns vergeben? War er in Wirklichkeit weniger großmütig? Er schrieb ein - übrigens wunderbares - Gedicht in De Rotterdammer, dessen letzte Strophe lautete:
Das Wort wird seine Kraft verlieren, sanfte Farben und Klänge werden leblos und kalt.
Alle Gefühle werden erblassen, will man sie malen.
Für mich jedenfalls verlor das Wort »Vergebung« seine Kraft durch soviel Seelenadel. Ich wollte nicht, daß mir vergeben wurde für etwas, das ich nicht getan hatte. Ebensowenig wollte ich - und das wußte ich mit Sicherheit -, daß mir vergeben würde, wenn doch etwas zwischen Janny und mir vorgefallen wäre. Warum sollte ein Mensch jemals wollen, daß ihm vergeben wird, wenn er doch bereit war, die Last seiner Schuld auf sich zu nehmen? Hätte ich mich schuldig gemacht, hätte ich auch dafür büßen wollen.
Kutter
Mit der Bemerkung über seine Großmütigkeit greife ich allerdings dem Gang meiner Geschichte vor. Als ich Janny an jenem Samstagabend im Oktober im Erker unverschämterweise küßte, war ich bereits Fahrstudent, Dem ging ein festlicher, leerer September voraus, in dem ich wieder Zeit zum Komponieren hatte, in dem mir aber auch alles, was Janny während unserer Wanderungen auf dem Deich zu mir gesagt hatte, im Kopf herumgeisterte. Mit rückwirkender Kraft wurde ich im nachhinein verliebt. In Gedanken führte ich lange Gespräche mit ihr, wobei ich immer wieder über die Kindergarten-Verlobung spottete. Danach schimpfte ich mit ihr, weil sie mit einem völlig verrückten Argument - ihr Vater und Hermans Mutter hätten etwas miteinander gehabt - unsere Beziehung abbrechen wollte. »Wer behauptet, daß die Kinder noch einmal versuchen müssen, was bei den Eltern unmöglich war?«
An einem dieser Septembertage spielte ich auf der nagelneuen Orgel der Maranatha-Kerk. Das Licht des Sparlämpchens oberhalb der Tastatur glänzte auf den Manualen. Mit der Rohrflöte der oberen Tastatur rief ich unseren Herrn Jesus Christus an, und Bach half dabei. Lange wartete ich nach dem Schlußton. Nach einem so innigen Gebet mußte Jesus doch antworten? Nichts geschah, es war und blieb totenstill in der Kirche, und wieder murmelte ich den schwarzen und weißen Tasten verzweifelt zu: »Völlig verrückt ist sie, völlig verrückt. Seine Mutter und ihr Vater hatten etwas miteinander. Es hat auf einem Kutter angefangen, einem Kutter, der nach England fuhr, aber von den Deutschen gesprengt wurde. Dann sind sie nach Hoek zurückgerudert.«
Wütend blätterte ich weiter im fünften Band der Peters-Ausgabe, den ich jedesmal, wenn ich dort spielte, auf dem Pult vorfand. »Es hat auf einem Kutter angefangen«, murmelte ich, »na und... was besagt das schon... ein Kutter. Und darum verstößt sie mich, nachdem sie mich einen Monat lang an den Strand mitgeschleppt hat.«
Mir gefiel vor allem das Wort »verstoßen«. Dadurch schien es auf einmal ein Ereignis zu sein, über das man lachen konnte, und ich blätterte und spielte die Choralpartita O Gott, du frommer Gott. Ich war damals erstaunt, daß selbst Bach todlangweilig sein konnte; ich wußte noch nicht, daß ich das Jugendwerk eines Fünfzehnjährigen in Händen hielt. Pflichtgemäß spielte ic h die siebte Variation. Bis zu den ersten Wiederholungszeichen geschah nichts Besonderes, aber nach dem Doppelstrich folgte unerwartet eine kleine Melodie von nur acht Takten, die mich förmlich verzauberte. Während ich sie immer wieder spielte, verjagte ic h alles, was mich beschwerte.
Auf dem Nachhauseweg summte ich ununterbrochen diese kleine Melodie, die Bach dem Choral O Gott, du frommer Gott zu entlocken gewußt hatte, und es war, als verjage der fromme Gott, der damit angerufen wurde, den anderen Gott, der Moses zu töten gesucht hatte, und daher beunruhigte mich auch Jannys Geschichte von dem Heringskutter nicht mehr. Heringskutter? Auf dem Weg nach England? Von den Deutschen in die Luft gejagt? Und dann alle in einem Ruderboot? War das nicht vielleicht dieses Ruderboot, das Leen Varekamp »mit diesen seinen
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