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Das Wüten der ganzen Welt

Das Wüten der ganzen Welt

Titel: Das Wüten der ganzen Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maarten 't Hart
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feierten, sagte er wie aus heiterem Himmel zu ihr: »Alexander will so gern wissen, mit wem du nun eigentlich versuchtest, auf dem Kutter nach England zu fliehen.«
    Sie ließ ihre Kokosmakrone fallen. Sie bückte sich, um sie aufzuheben, sie sagte, nachdem sie sich wieder aufgerichtet hatte, zu mir: »Warum willst du das wissen?« Sie blickte mich mit ihren großen stahlblauen Augen streng an.
    Ich sagte: »Unser Nachbar, Leen Varekamp, erzählt immer von dem Kutter, und er sagt immer, daß Sie von Doggerbank...«
    »Der Lügner! Wir waren gerade erst auf See.«
    »Oh, nun, das weiß ich nicht«, sagte ich unglücklich, »aber weil er das immer erzählte, wenn ich die Zeitung holen wollte...«
    »Zeitung holen...?«
    »Ja, wir lasen die Zeitung mit Varekamps zusammen. Ich holte sie da abends immer ab, und dann erzählte er vom Kutter... und neulich fing er wieder mit der ganzen Geschichte an, und da erzählte er, daß außer Ihnen noch sechs Flüchtlinge dabei waren, zwei Leute aus der Boonestraat, die später Selbstmord begangen haben, und noch zwei... wie soll ich es ausdrücken... zwei Pärchen... zwei Ehepaare, oder vielleicht waren sie noch nicht verheiratet... Er wußte die Namen nicht mehr, er sagte, daß Sie die wohl noch wüßten.«
    »Ich? Es ist über zweiundzwanzig Jahre her!«
    »Natürlich weißt du das noch«, sagte William, »keiner hat ein so gutes Gedächtnis wie du, du weißt zehntausend Klavierstücke auswendig.«
    »Ja, Klavierstücke«, herrschte sie ihn an, »aber du glaubst doch nicht, daß ich noch die Namen von Leuten weiß, die ich vor zweiundzwanzig Jahren einen einzigen Tag lang gesehen habe? Du kannst ja Simon fragen.«
    »Simon Minderhout? Warum Simon Minderhout? Was hat der damit zu tun?« fragte William.
    »Oh, nichts«, sagte sie, »der hat nichts damit zu tun.«
    »Na komm, erst sagst du: Frag Simon, und dann sagst du...«
    »Halt die Klappe, halt in Jesu Namen die Klappe, wir sitzen hier zusammen, um zu feiern, daß Herman und Janny ihrem Schöpfer das Jawort gegeben haben, und dann gehst du einem mit einer Sache auf die Nerven, die vor hundert Jahren passiert ist und an die ich auch gar nicht mehr erinnert werden möchte...«
    »Wieso, nein, ich nerv überhaupt nicht, Alexander wollte es gern wissen.«
    »It's none of his business«, sagte sie, und das wiederholte sie dreimal. Sie stand auf und sagte zu Herman und Janny: »Ich habe gestern eine Platte gekauft, die möchte ich euch gern einmal vorspielen.«
    Sie ging zum Grammophon, nahm eine Platte aus einer ockergelben MMS-Hülle, legte sie auf und setzte sich wieder hin. Nach dem anfänglichen Rauschen erklang die Kantate 104 von Bach. Bis zu jenem Augenblick im Erker, mit dem Blick auf den Fluß, auf dem das goldfarbene Sonnenlicht in all seiner Fülle ruhte, war ich aus Gründen, die ich nicht erklären kann, immer vage davon überzeugt gewesen, daß Bachs Kantaten Gelegenheitsarbeiten gewesen seien, nicht vom selben Rang wie die für mich schon damals so kostbaren Schätze: das Doppelkonzert für zwei Violinen, das Violinkonzert in E-dur, die Matthäus-Passion, die sechs Triosonaten für Orgel, die Flötensonate in h- moll. Dann erklangen die Einleitungstakte von Du Hirte Israel, höre, und mir wurde rot vor Augen. Ich sehe noch alles vor mir: den Erker, das Sonnenlicht, den gleißenden Fluß. Ich höre noch, wie Janny in die Musik hineinredete, und weiß noch, daß ich sie in dem Moment haßte, ein Haß, der jedoch sofort wieder von Bach zunichte gemacht wurde. Sonderbar, daß jemand, der schon über zweihundert Jahre tot ist, einem mehr bedeutet als jedes lebende Wesen. Rätselhaft, daß man mit einer so tiefen Verehrung zu jemandem aufsehen kann, der für uns nur durch Klänge existiert, hervorgebracht nicht von ihm selbst, sondern von Instrumenten oder den Stimmen anderer Menschen. Und doch wußte ich damals nach dieser Kantate mit dem unvergleichlichen Einleitungschor und der mindestens ebenso unvergleichlichen Baßarie, daß ich mein Leben lang Bach über alles lieben würde, mit meinem ganzen Herzen und meiner ganzen Seele und all meiner Kraft und all meinem Verstand. In gewisser Hinsicht habe auch ich an jenem Sonntag mein Glaubensbekenntnis abgelegt, habe auch ich meinen Gott gefunden. Nur hieß mein Gott Bach, und daß dann noch andere Götter hinzugekommen sind oder damals schon dabei waren - Mozart, Schubert, Verdi, Wagner -, wird ihn sicher nicht eifersüchtig machen, denn meine tiefste, größte und

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