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Das Wüten der ganzen Welt

Das Wüten der ganzen Welt

Titel: Das Wüten der ganzen Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maarten 't Hart
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Wochen die Zugreisen, die mich nach Leiden führten. Die Rückfahrt war weniger schlimm; dann hatte ich das Gefühl, weil ich heimkehrte, wieder durchatmen zu können. Unbarmherzig formulierte mein Vater eines Abends in der Sprache vom Hoofd, was ich selbst nur undeutlich erkannte: »Du findest da noch keinen Platz für deinen Hintern, glaube ich.«
    Universitäten sind Anachronismen. Sie datieren noch aus der Zeit vor der Erfindung der Buchdruckerkunst. Damals war es sinnvoll, daß Professoren ihren Studenten ihr Wissen durch Vorträge - Vorlesungen genannt - vermittelten. Heute aber, da Wissen in Büchern nachgeschlagen werden kann, ist eine Vorlesung eine absurde Zeitverschwendung. In der Vorlesung über Organische Chemie behandelte der Professor tagaus, tagein, eine Woche nach der anderen, Lehrstoff aus einem Buch, das wir für das Zwischenexamen durcharbeiten mußten. Versäumte man eine Vorlesung, so hatte man eine Stunde frei. Arbeitete man in der Stunde tatsächlich an dem Buch, ersparte man sich enorm viel Zeit. Dasselbe galt auch für die Physikalische Chemie.
    Dennoch dauerte es ein paar Monate, bevor ich dahinterkam, daß es Zeitverschwendung war, in Vorlesungen zu gehen. Vielleicht hätte ich es sogar, brav wie ich nun einmal bin, nie gewagt, die Vorlesungen zu versäumen, wenn nicht Jozef Zonderman, der im Titrierpraktikum neben mir saß, erzählt hätte, sein Vater suche verzweifelt jemanden, der vorübergehend einen kranken Klavierstimmer vertreten könne.
    »Ein Klavier stimmen«, sagte ich an einem Novembernachmittag übermütig zu Jozef, »oh, natürlich kann ich das, ich habe das absolute Gehör. Und ich habe auch schon Erfahrung damit, seit Jahren stimme ich mein eigenes abgetakeltes Klavier.«
    »Du solltest mal mit meinem Vater sprechen«, sagte Jozef.
    Das tat ich nicht, aber zwei Tage später, während ich titrierte, klopfte mir jemand vo rsichtig auf den Rücken. Sofort drehte ich den Verschlußhahn meiner Bürette zu.
    »Ich höre von meinem Sohn, daß du Klaviere stimmen kannst. Ich bin sehr in Verlegenheit. Wenn du wirklich einigermaßen manierlich stimmen kannst, möchte ich mich dir empfehlen, möchte ich mich dir sehr empfehlen. Könntest du morgen früh einmal kurz bei mir im Geschäft vorbeikommen?«
    »Morgen früh habe ich Vorlesungen.«
    »Die sind doch nicht Pflicht?«
    »Nein, aber...«
    »Die kannst du doch wohl ein einziges Mal ausfallen lassen?«
    »Du kannst gern meine Aufzeichnungen benutzen«, sagte Jozef.
    »Siehst du«, sagte sein Vater, »darf ich also mit dir rechnen?«
    Am nächsten Tag ging ich vom Bahnhof aus geradewegs in das Pianogeschäft von Zonderman in der Hogewoerd. Dort wurde ich, sobald ich hereingekommen war, von einem mürrischen Zonderman an einen abgesackten Bechstein gesetzt, den ich mühelos hochstimmen konnte und auf dem ich anschließend in dem leeren Vorführraum die hübsche Sonate Longo 463 (Non presto, ma a tempo di ballo) von Scarlatti übte. Um halb elf tauchte Zonderman mit einer Tasse starken Kaffee aus der Tiefe des Wohnhauses, das hinter dem Vorführsaal lag, auf. Er lauschte ein wenig dem überraschenden Tänzchen und sagte: »Gar nicht übel, was willst du nun dafür haben?«
    »Oh, das weiß ich nicht, was verdient ein Stimmer?«
    »Ein guter diplomierter Stimmer ist Gold wert, aber du bist noch Anfänger... du mußt erst einmal sehen lassen, was du kannst, ich kann dir für einmal Stimmen einen Zehner zahlen.«
    »Das ist wunderbar«, sagte ich, »unter der Voraussetzung, daß ich dann ab und an zum Üben kommen darf. Sie haben hier so viele phantastische Flügel stehen.«
    »Du willst hier spielen? Von mir aus, ich höre im Haus sowieso nichts davon. Aber wenn Kunden da sind...«
    »Nein, dann höre ich natürlich sofort auf.«
    »Aber vor zehn Uhr sind eigentlich keine Kunden da, also wenn du früh kommst, kannst du dich von mir aus amüsieren.«
    So wurde ich vertretungsweise Klavierstimmer und hatte einen Vorführsaal voller Flügel, an denen ich morgens früh spielen durfte. Zwar mußte ich viel eher von zu Hause fort, und ich geriet in aller Herrgottsfrühe in vollbesetzte Züge. Das machte mir eigentlich nichts aus, dennoch begann ich jetzt, auch weil ich plötzlich Geld verdiente und, wie man im Hoofd sagen würde, »also verleihen konnte«, mich in Leiden nach einem Zimmer umzusehen. Überall, wo ich stimmte und nicht allzu unfreundlich behandelt wurde, fragte ich vorsichtig: »Wissen Sie vielleicht, wo ein Zimmer zu haben

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