Das Wüten der ganzen Welt
ist?«
Nach Neujahr stimmte ich an der Hooglandse Kerkgracht. Auch dort fragte ich nach dem Stimmen eine alte Dame mit unglaublich dicken Brillengläsern: »Haben Sie vielleicht noch ein Zimmer frei?«
»Nein«, sagte sie, »ich habe schon drei Studenten, und die fühlen sich hier recht wohl, die denken nicht daran auszuziehen, also wird sobald nichts frei.«
»Na ja, schade«, sagte ich, »ich würde hier gern wohnen, dies ist die schönste Gracht von ganz Leiden.«
Sie sah mich durch ihre enormen Brillengläser an. Sie sagte: »Frostködel?«
»Frostködel? Ich? Wie kommen Sie darauf?«
»Ich frage ja nur«, sagte sie, »ich habe oben noch eine ganz annehmbare Dachkammer, aber da gibt es keine Heizung, und ich bin absolut dagegen, daß dort ein Ölofen oder ein Gasofen benutzt wird. Ein Stückchen weiter ist neulich ein Haus ausgebrannt, weil ein Mädchen bei einem Gasofen studiert hat. Und ich will auch nicht haben, daß Sie einen Elektroofen aufstellen. Strom kostet ein Vermögen.«
»Ob ich mir das Zimmer wohl einmal ansehen darf?«
»Kommen Sie nur mit, aber denken Sie daran: Es ist keine Heizung da, und Öfen kommen nicht in Frage.«
»Ich wohne zu Hause auch in einer kleinen, kalten Dachkammer«, sagte ich.
Wir stiegen zwei Treppen hoch. Wir gingen über einen dunklen Dachboden. Sie öffnete eine Tür. Vor uns lag eine leicht abgeschrägte Dachkammer mit kleinen Bogenfenstern. Gewaltige Balken stützten das Dach, und hinten im Zimmer gab es einen Alkoven mit einer winzigen Küche.
»Ach, hier würde ich gern wohnen!« sagte ich.
»Na, na«, sagte sie, »das klingt ja wie ein Stoßseufzer. Sechzig Gulden im Monat. Aber denken Sie daran: kein Ölofen und nichts!«
Schon eine Woche später wohnte ich dort. Und eines weiß ich: Daß ich mein Leben lang Heimweh nach diesem Zimmer haben werde. Man hatte eine wunderbare Aussicht auf den Nordgiebel der Hooglandse Kerk. Mittags tasteten die ersten Sonnenstrahlen die Bogenfenster ab, und am Nachmittag schien dann die Sonne herein, und ich weiß noch genau, daß ich an einem Februarnachmittag vom Titrierpraktikum nach Hause kam und zum erstenmal erlebte, wie das überwältigende Sonnenlicht an den Bogenfenstern vorbeiglitt und die Hälfte meines Zimmers in Glut tauchte. Lange habe ich da oben vom zweiten Stock auf die von der Sonne erleuchtete Gracht geschaut. Es war ein Tag im Februar, der schon ein Vorgriff auf den Sommer war, und ich öffnete eines der Fenster und ließ den Frühling herein.
In dem Augenblick schien es, als hätte ich endlich meine Jugend, und auch den Mord an Vroombout, für immer hinter mir gelassen, als ob ich alles vergessen, eintauschen durfte gegen die Jugend eines anderen, und aufgewachsen wäre mit Brüdern und Schwestern, die alle Musik liebten und ein Quartett oder ein Quintett gebildet, gesungen und gespielt hatten, wie die Kinder von Johann Sebastian Bach gesungen und gespielt hatten. Die Februarsonne schien mir mitten ins Gesicht, Kinderstimmen klangen von der Gracht herauf, und eine leichte Brise blähte die Gardinen. Es schien ausgeschlossen, daß der Mörder von Vroombout, der auch mich hatte töten wollen, jemals dort über das Kopfsteinpflaster der Gracht hinweg zu mir kommen würde. Endlich war ich also doch erlöst, frei von Angst, endlich konnte ich akzeptieren, daß ich nie erfahren würde, wer diesen Mord verübt hatte. Und in dem warmen Sonnenlicht konnte ich mich damals auch für einen Augenblick damit versöhnen, daß ich Pharmazie studierte. Es war ja gar nicht so entsetzlich. Die Vorlesungen, soviel war deutlich geworden, konnte ich guten Gewissens versäumen. Dadurch hatte ich die Vormittage frei, um Klavier zu üben oder irgendwo zu stimmen oder Biographien großer Komponisten zu lesen. Na schön, mittags und nachmittags fanden die vorgeschriebenen Praktika statt, und die waren, von außen betrachtet, katastrophal, vor allem das Titrierpraktikum. Aber um wieviel schlimmer müßte es sein, durch die Heide zu robben oder in Kasernen herumzuhängen. Das Studium würde ich sicher durchhalten, und nun, wo ich hier in Leiden wohnte, konnte ich vielleicht auch Mitglied des Collegium Musicum werden. Wie eigenartig, daß man in einem solchen sonnendurchglühten Augenblick denkt, das ganze Leben liege noch vor einem, während sich später herausstellt, daß ein solcher Moment das wahre Leben ist. Die Hoffnung hat dann noch einen langen Weg zu gehen; von Beruhigung kann nicht die Rede sein, alles atmet Erwartung. Ich
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