Das Wüten der ganzen Welt
dauerhafteste Liebe gilt Johann Sebastian Bach, und vor allem dem Bach, der sich mir an jenem Sonntag offenbarte, dem Bach der Kantaten, dem Bach, der die schönsten Melodien überhaupt komponiert hat, und als einen der Höhepunkte in diesem majestätischen Werk die Baßarie aus der Kantate 104.
Als ich in dem noch immer goldfarbenen Spätsommerlicht nach Hause ging, stand eines für mich fest. Gut, ich würde studieren, nächste Woche sollte das Studium beginnen, aber das einzige, was zählte, war die Musik, waren Bachs Kantaten, und diese Kantaten wollte ich alle, alle zweihundertzwanzig oder wie viele es auch waren, kennenlernen, koste es, was es wolle. Nur darum drehte es sich, nur das war wirkliches Studium, gründliches Studium wert.
Inzwischen kenne ich alle Kantaten Bachs. Jetzt weiß ich, daß ich mich damals, an jenem Sonntagmorgen nach der Kirche, an dem Gedanken, die Bach-Kantaten zu studieren, festbiß, um mein Unbehagen, mein Elend, das der Mord an Vroombout in mir ausgelöst hatte, von mir abzuschütteln. Heute weiß ich, daß ich damals noch immer Angst vor dem Mörder hatte, Angst hatte, daß er wieder auftauchen und nachträglich vollenden würde, wozu er am Kreuzzugsnachmittag nicht gekommen war. Es können eigenartige Hirngespinste von uns Besitz ergreifen, vage Gedanken, vielleicht Eingebungen, die, so unbegründet sie sein mögen, eine merkwürdige Form von Schutz gewähren. Ein solcher Gedanke war an jenem Sonntagmorgen: Solange ich noch nicht alle Kantaten Bachs kenne, brauche ich keine Angst davor zu haben, daß der Mörder sein Werk zu Ende bringen wird. Daher machte es mir auch nichts aus, daß es so schwierig war, die Kantaten kennenzulernen. Aufnahmen von den Kantaten gab es damals kaum. Aufgeführt wurden sie selten. Ab und zu gab es eine im Radio, aus Deutschland, am Sonntagmorgen. Dann saß ich, mein Ohr an den Lautsprecher gepreßt, um nichts von dem zu versäumen, was durch das Rauschen hindurch zu hören war.
Bach war es auch zuzuschreiben, daß ich an jenem Sonntag völlig vergaß, was meine Klavierlehrerin zu mir gesagt hatte, nämlich: »Du kannst ja Simon fragen.« Nicht einmal, als ich am nächsten Mittwoch auf dem Weg zur Maranatha-Kerk beinahe über ihn stolperte, dachte ich daran, ihn zu fragen.
Er sagte: »Soso, ich habe gehört, daß du in meine Fußstapfen treten wirst. Es freut mich, daß du meinem weisen Rat folgen und auch Pharmazie studieren willst. Wer weiß, wenn du in acht oder neun Jahren dein Studium beendet hast, kannst du vielleicht meine Apotheke übernehmen.«
»Wollen Sie denn...?« fragte ich, aber er hörte gar nicht zu.
Er sagte: »Früher oder später wirst du während deines Studiums meinem Freund Bram Edersheim begegnen. Richte ihm dann die herzlichsten Grüße von mir aus und sage ihm, daß er wieder einmal ein Wochenende bei mir verbringen soll.«
Dachkammer
Die ersten Monate in Leiden! Wie ein böser Traum, aus dem ich nie mehr erwachen würde! Zwei riesige Gebäude wie aus einem Gemälde von Willink beherrschen diesen Alptraum. Sie erheben sich links und rechts der Hugo de Grootstraat; im höheren Gebäude ist die Abteilung Pharmazie untergebracht, im größeren die Abteilung Chemie. Beide haben Bogenfenster, und dahinter liegen die Praktikumssäle, die stets in Dunkel gehüllt sind, genauso wie die Vorlesungssäle, die mit ihren dunklen, braunroten, runden Bänken Amphitheatern ähneln und in denen wir von neun bis elf die hastige Vorlesung des Professors für Organische Chemie und von elf bis eins die gekünstelte, träge Vorlesung des Professors für Physikalische Chemie hörten.
Die ersten Monate in Leiden! Es war, als würde ich plötzlich fortgerissen und aus dem zwanzigsten ins neunzehnte Jahrhundert zurückversetzt. Fünf Jahre lang war ich auf einem nagelneuen Gymnasium mit modernen Fluren und Klassenräumen gewesen. Nun landete ich in Gebäuden, die im Zeitalter der Gasbeleuchtung errichtet worden waren. Gebäude mit knarrenden Treppen und in Blei eingefaßten Fenstern; Gebäude, in denen zu festgesetzten Zeiten, wenn eine Vorlesung vorbei war, das Knallen der zurückklappenden Sitze erklang. Hätte man gewollt, so hätte man, wenn alle auf einmal aufgestanden wären, eine Demonstration veranstalten können.
Da ich in den ersten Monaten noch Fahrstudent war, erschien jede Zugreise wie eine Zeitreise. Und während ich in jenem einen Frostmonat am Gymnasium das Bahnfahren genossen hatte, haßte ich bereits nach wenigen
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