Das Wüten der ganzen Welt
gehängt hatte.
Nachdem wir das Es-dur-Trio zweimal gespielt hatten, wagten wir uns an das erste Klaviertrio von Brahms. Damals meinte ich noch, ich liebte Brahms nicht, und so gelang es mir auch nicht, Opus 8 makellos vom Blatt zu spielen. Dennoch summte ich hinterher immer wieder die großartige, erhabene, majestätische Anfangsmelodie, von der man nicht begreifen kann, daß sie von einem jungen Mann stammt.
»Am besten solltest du hiervon den Klavierauszug mitnehmen und üben«, sagte die Professorenfrau.
»Ja, gut, gern«, sagte ich.
»Dann versuchen wir es das nächste Mal.«
»Aber nun erst ein Glas Wein«, sagte der Professor, »das haben wir uns verdient.«
Er schenkte riesige kristallene Gläser mit grünem Fuß halb voll mit Sancerre, und wir stießen auf das Zusammenspiel an, und die Praktikumsassistentin sagte: »Du spielst wunderbar Klavier!«
»Ja«, sagte der Professor, »Simon hat nicht zuviel versprochen.»
»Es reicht noch lange nicht«, sagte ich.
»Nun, für einen Amateur kannst du dich sehen lassen«, neckte die Professorenfrau.
»Kennen Sie Mijnheer Minderhout schon lange?« fragte ich den Professor.
»Wir haben zusammen studiert«, sagte der Professor, »wir kamen alle drei 1930 hierher, er, meine Frau und ich, wir haben im selben Saal unser Praktikum gemacht, in dem du jetzt sitzt, ich saß immer zwischen Simon und meiner Frau, daher...«
Mit einem schelmischen Blick zu seiner Frau fügte er hinzu: »Wenn es umgekehrt gewesen wäre, wärst du jetzt mit Simon verheiratet.«
»Dann wäre ich besser dran gewesen«, sagte die Professorenfrau.
»Ja, es wäre eine Mischehe gewesen, wahrscheinlich hättest du im Krieg nicht unterzutauchen brauchen.«
»Das laß mal lieber ruhen, diesen Krieg... mein Mann fängt über kurz oder lang immer vo m Krieg an«, sagte sie zu mir.
»Ich war drei Jahre lang in einer winzigen Dachkammer untergetaucht«, sagte der Professor, »drei Jahre nur drinnen, stell dir das vor. Weißt du, was ich getan habe? Da stand ein Klavier. Ich konnte nicht spielen, aber es gab jemanden im Haus, der spielen konnte und der hat mir jeden Tag den nächsten Takt aus Bachs Wohltemperiertem Klavier vorgespielt. Dann übte ich den ganzen Tag diesen einen Takt und alles, was ich vorher gelernt hatte. So habe ich beide Teile von Bachs Wohltemperiertem Klavier auswendig spielen gelernt. Damit bin ich durch den Krieg gekommen, es hätte schlimmer sein können. Und doch wäre es großartig gewesen, wenn wir '40 auf diesem Kutter nach England...«
»Hör doch damit auf«, sagte die Professorenfrau.
»Was für ein Kutter?« fragte ich.
»Die ›Majuba 2‹«, sagte er, »ich nehme an, daß du schon mal davon gehört hast, auch wenn es vor deiner Zeit passiert ist.«
»Ja, natürlich, von unserem Nachbarn, von Varekamp, der gerudert hat. Ach, Sie also... Wie kamen Sie denn, ich meine, woher wußten Sie denn, daß ein Kutter ausfahren würde?«
»Von Simon. Der kannte den Schiffer gut, der hat alles für uns geregelt. Am zweiten Pfingsttag rief er bei uns an und sagte, daß wir mitkönnten, wenn wir wollten. Ich hatte gerade Examen gemacht, und meine Frau war schon ein paar Monate vorher fertig, und wir hatten zu mehreren Pharmazeuten in England gute Kontakte. Ach ja... welch ein Unglück, daß wir diesem Unterseeboot begegnen mußten.«
»Na ja, aber Sie beide sind doch gut durch den Krieg gekommen?« sagte ich.
»Mein Gott, was für eine Bemerkung«, sagte die Professorengattin, »man sieht doch, daß Sie den Krieg nicht mitgemacht haben. Ja, so ist es, junger Mann, wir haben überlebt, aber frag nicht, wie!«
»Drei Jahre in einem winzigen Zimmer«, sagte der Professor, »drei Jahre Todesangst in einem Loch, aber es ist wahr, wir leben noch, wir schon.«
Vorsichtig hob ich das riesige Glas mit dem grünen Fuß. Mit beiden Händen hielt ich es mir vor das Gesicht. Versuchte ich, meine Beschämung zu verdecken?
»Ja, wir schon«, sagte der Professor nochmals, »aber diese Frau, diese wunderbare, wunderbare Frau...«
»Ende '44 verraten und aufgegriffen«, sagte die Professorenfrau bitter, »bei einer der allerletzten Razzien, nicht zu glauben...«
»Er ist durchgekommen«, sagte der Professor.
»Aber er trauert noch immer um sie«, sagte die Professorenfrau.
»Um sie trauern«, sagte der Professor, »um sie trauern nennst du das? Wüten, würde ich sagen, zutiefst wüten, bis heute, und deshalb ist er auch am besten, wenn er Trauermusik dirigiert. Wartet, ich habe
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