Das Wüten der ganzen Welt
was für ein netter Junge... ja, ich hab schon einen Freund, und ich liebe ihn wirklich sehr... na, sollen wir noch was spielen? Wollen wir es mal mit Fauré versuchen, Au bord de l'eau?«
»Kenn ich nicht«, sagte ich, »aber von mir aus.«
Sie sang, ich spielte. Das klang weniger gut. Sie brach mitten im Lied ab, sah mich scharf an, sagte: »Es geht nicht.«
»Nein«, sagte ich, »es ist zu schwer.«
»Für mich ist es zu schwer«, sagte sie, »nicht für dich. Mit Erik geht es besser, weil es für uns beide zu schwer ist und ich dann nicht das Gefühl habe, daß ich es nicht kann. Wenn beide herummurksen, braucht man sich nicht voreinander zu genieren, aber jetzt, wo ich die einzige bin, die stümpert... sollen wir nicht lieber aufhören?«
»Schade«, sagte ich, »es ist ganz herrlich, dieses Lied, aber gut, hören wir auf.«
»Die Sonne scheint noch so schön draußen. Wollen wir ein Stück am Kanal Spazierengehen?«
Wir gingen am Kanal spazieren. Überall blühten Ihr Blümlein alle. Nur nicht der Huflattich. Seine großen dunkelgrünen Blätter verdeckten die Uferbefestigung. War er schon verblüht? Hatte er überhaupt geblüht? Die Luft war klar und warm und trocken. Über dem Wasser tanzten Millionen Mücken. Nachdem wir eine Weile schweigend nebeneinanderhergelaufen waren, sagte sie: »Schade, daß ich dich damals nicht gesehen habe.«
»Damals? Wann damals?«
»Als wir bei Minderhout übernachteten. Da hätte ich dir doch ganz leicht begegnen können, ich bin viele Male mit meinem Bruder zur Mole gegangen.«
»Wann war das?«
»Einmal zu Weihnachten. Mein Vater und meine Mutter fuhren über Weihnachten eine Woche nach England. Mit der Harwich-Fähre. Auf dem Weg dahin haben sie uns bei Minderhout einquartiert.«
»Fandest du es schön da?«
»Ja, sehr schön, es ist ein so hübsches Städtchen, mit diesem Hafen und den komischen, blaubemalten Treppen da hinter Minderhouts Haus, und alle die Boote und die Fleete.«
»Ist das lange her?«
»Ich weiß nicht genau, wann wir da zu Besuch waren, ich ging damals noch nicht aufs Gymnasium, ich glaube, daß es '55 war. Oder '56. Ja, es war '56, denn es war kurz nach dem Aufstand in Ungarn, ja, Weihnachten 1956. Von Samstag vor Weihnachten bis zum Samstag danach.«
»Ach ja, der Samstag vor Weihnachten? Um welche Zeit seid ihr denn angekommen? Abends?«
»Nein, wir sind schon morgens abgefahren, und meine Eltern sind am Spätnachmittag nach Hoek van Holland weitergereist.«
»Was habt ihr denn den ganzen Tag bei Minderhout gemacht? Oder seid ihr auch in die Stadt gegangen?«
»Nein, es war scheußlich kaltes Wetter, weiß ich noch, nein, wir haben den ganzen Tag drinnen gesessen, wir haben gepuzzelt, mein Bruder und ich, mein Vater und meine Mutter müssen noch unterwegs gewesen sein, zusammen mit Minderhout... sie mußten noch jemanden sprechen.«
»Wen?«
»Oh, du, das weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß sie bei ihrer Rückkehr alle ziemlich aufgeregt waren, man hörte sie immer nur die Treppen rauf- und runterlaufen. Mein Bruder und ich versuchten gerade, ein schwieriges Puzzle zusammenzusetzen, und wir wurden immer wieder gestört und konnten uns überhaupt nicht konzentrieren... ein Lärm, unglaublich. Aber dann sind sie auch ziemlich schnell nach Hoek van Holland gefahren.«
»Mit dem Auto?«
»Ja, mein Vater hatte damals einen Ford!«
Wieder liefen wir eine Weile schweigend auf die nun allmählich untergehende Sonne zu. Sie sagte: »Verrückte Idee, daß ich dir hätte begegnen können, als ich da übernachtete.«
»Ich bin froh, daß es nicht so gekommen ist«, sagte ich, »ich sah damals noch sehr steif aus. Meine Haare waren ganz glatt nach hinten gekämmt, und ich lief immer in abgelegten Kleidern herum. Mein Vater und meine Mutter waren so unglaublich sparsam. Fast alles, was sie brauchten, suchten sie aus dem Trödel heraus, den mein Vater zusammensammelte. Sogar meine Kleider, schrecklich war das!«
»Na ja, mich hättest du damals auch nicht sehen dürfen. Immer weiße Schleifen im Haar. Und dann die weißen Kniestrümpfe! Ich hätte es trotzdem gut gefunden, wenn ich dich da gesehen hätte... na ja, vielleicht haben wir uns sogar gesehen, ich habe damals schon ein bißchen den Jungen nachgeguckt.«
»Ich Mädchen nie«, sagte ich.
»Wann hat das bei dir angefangen?«
»Mich für Mädchen zu interessieren? Oh, tu ich auch jetzt noch nicht, dafür habe ich keine Zeit.«
»Ach ja, aber warum hast du mich dann so angeguckt,
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