Das Wüten der ganzen Welt
herauf und stellte sich neben mich.
»Hallo«, sagte sie, »ich bin auch eingeladen.«
»Spielen Sie auch mit?« fragte ich erstaunt.
»Nein, ich höre nur zu, ich bin heute abend Publikum, und sag doch nicht Sie, ich heiße Yvonne, wir sind hie r nicht im Praktikum.«
So kam es, daß ich neben der pharmazeutischen Hexe den Hausflur betrat. Es war, als kämen wir zusammen, und die resolute Professorengattin behandelte uns auch sofort und wie selbstverständlich als Pärchen. Mißmutig ging ich neben der grell aufgemachten Hexe ins Wohnzimmer. Sie trug einen Minirock. Sie hatte ihre Krallen offenbar eigens für diese Gelegenheit zur Abwechslung nicht feuerrot, sondern dunkellila lackiert.
»Setzt euch«, sagte der Professor und wies auf ein Zweisitzersofa.
Neben der Hexe sitzend, erduldete ich die höfliche Plauderei und die obligatorische Tasse Kaffee, die anscheinend dem Musizieren vorauszugehen hatten. Wir saßen einer hohen Wand aus rohen Backsteinen gegenüber. Sie war nicht tapeziert, und es hing nicht einmal ein Bild daran. Unnahbar erhob sich die Wand. War das nun das schöne Mauerwerk, das Makler so gern anpriesen? Während wir Kaffee tranken, ging links in der Wand eine schwarze Tür auf. Ein Mädchen in meinem Alter blieb kurz in der offenen Tür stehen, schaute mich an, schaute dann leicht verächtlich die Frau an, die neben mir saß und gerade ihre Kaffeetasse hob, so daß ihre Klauen in der Luft schwebten. Dann schlenderte das Mädchen langsam an der Wand mit dem schönen Mauerwerk entlang. Hinter ihr auf der Mauer folgte ihr meterhoher Schatten. Sie öffnete eine Tür rechts in der Wand und verschwand wieder. Das alles dauerte höchstens dreißig Sekunden. Ich hatte den Eindruck, als liefe sie vor Beginn eines Theaterstücks, in dem sie nun gleich die Hauptrolle spielen würde, nur kurz über die Bühne, um sich ein Bild vom Publikum zu machen.
»Das war Hester, unsere Tochter«, sagte die Professorengattin.
Oft habe ich mich gefragt, ob Hesters merkwürdig ziellose Wanderung entlang der blinden Wand mit dem schönen Mauerwerk weniger Eindruck auf mich gemacht hätte, wenn nicht die Praktikumsassistentin neben mir gesessen hätte. Obwohl diese mich, wie ich zugeben muß, mit ihrem bizarren Aussehen durchaus faszinierte, empfand ich vor allem Abscheu. Vielleicht war ich dadurch empfänglicher für ein Mädchen, das ich wirklich nett finden konnte. Oder noch deutlicher: Die leichte Panik, die mich dort auf der Couch neben der Titrierflamme überfallen hatte, hätte mich durchaus in die Arme einer anderen stürzen lassen können, für die ich mich normalerweise nie interessiert haben würde. Oder ist dies alles Einbildung, und hätte mir das dahinschlendernde Mädchen mit ihrem riesigen Schatten auf dem schönen Mauerwerk einen genauso tiefen Eindruck gemacht, wenn ich allein auf der Couch gesessen hätte? Nie werde ich es wissen. Soviel aber ist sicher: Schon im ersten Augenblick, als ich sie sah, muß ich gedacht haben: Da ist sie, da ist sie, meine... Was sollte ich nach »meine« ergänzen? Meine Freundin? Meine zukünftige Frau? Wie lächerlich, gleich auf Anhieb ein besitzanzeigendes Pronomen zu benutzen! Nichts wußte ich von ihr. Und doch habe ich den ganzen Abend über dort im Bungalow an der Eilandpolderlaan nur noch gehofft, daß die rechte Tür aufgehen und sie wieder an der Wand entlangschlendern würde.
Als wir uns nach dem Geplauder und dem Kaffee an das Esdur-Trio von Haydn (Hoboken XV, Nr. 22.) wagten und dies, obwohl ich es vom Blatt spielen mußte, viel besser ging, als ich jemals erwartet hätte, hoffte ich inbrünstig, daß das Mädchen noch im Haus sein möge und den großen Joseph Haydn in ihrem Zimmer hören könnte. Spielte ich daher beseelter, als ich es sonst vielleicht getan hätte? Oder lag es an dem Stück selbst, ein Stück, das nur Haydn komponiert haben konnte, kräftig, kapriziös, fröhlich, phantasievoll und erfüllt von einer beneidenswerten Lebenslust. Ja, dieses Trio, ich brauche nur die purzelnden Triolen daraus zu hören, und schon sehe ich sie wieder an jener Wand entlangschlendern.
Die Frau des Professors war eine ausgezeichnete Geigerin, und auch er war ein Cellist, der in jedem Orchester hätte spielen können. Es war ein Fest, mit ihnen zusammen zu spielen, aber vergällt wurde mir das Fest großenteils durch die Titrierflamme, die mich die ganze Zeit über anlächelte und sich mitten im Trio heimlich zwei riesige goldfarbene Ringe an die Ohren
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