Das Wüten der ganzen Welt
hier eine Platte, ich laß euch jetzt seine Interpretation von Mozarts Maurerischer Trauermusik hören.«
Dann hörte ich, gespielt vom Symphonieorchester Sydney unter Leitung von Aaron Oberstein, zum erstenmal die neunundsechzig Takte, aus denen die Maurerische Trauermusik besteht, das Stück, das ich auf meiner Beerdigung hören möchte, in dieser Besetzung.
Nach dem Mozart nippten wir eine Weile schweigend an unserem Wein. Die ganze Zeit über dachte ich: Nun weiß ich also, wer alles damals an Bord war, und ich wunderte mich darüber, daß mir dies keinerlei Genugtuung gab. Im Gegenteil: Ich schämte mich. Zutiefst schämte ich mich über die Bemerkung: »Na ja, aber Sie beide sind doch gut durch den Krieg gekommen.« Und außerdem fühlte ich mich schuldig, daß ich anzunehmen gewagt hatte, diese beiden Menschen, mit denen ich so gut den großen Joseph Haydn hatte interpretieren können, seien vielleicht an der Ermordung von Vroombout beteiligt gewesen. Damit beleidigte ich sie ja unendlich. Und auch den großartigen Dirigenten durfte ich nicht mit dem Mord in Verbindung bringen. Wie hatte ich nur jemals meinen können, daß diese Menschen, diese Flüchtlinge, in einen hinterhältigen, heimtückischen Mord in dem armseligen Lagerhaus eines Lumpenhändlers verwickelt waren?
Viel später, schon im Bett, nach einer Radtour, bei der ich stur neben der sorglos schwatzenden Titrierhexe hergefahren war, schämte ich mich noch immer. Teils wegen meiner Verdächtigung, teils wegen meiner Bemerkung: »Na ja, aber Sie sind doch beide gut durch den Krieg gekommen.« Mitten in der Nacht wurde ich wach. Wegen der vier Gläser Sancerre schlug mein Herz, als ob es bei den Schlagzeugern in einem Symphonieorchester mitspielen wollte. Böse murmelte ich: »Sie sagte: Kommst du noch auf ein Gläschen Wein mit zu mir? Was denkt die sich, diese Hexe? Und wenn ich das nächstes Mal dorthin gehe, taucht sie natürlich auch wieder auf, sie hat gehört, welches neue Datum wir verabredet haben. Dann denkt diese Hester vielleicht... oh, wie schrecklich... und doch ist es verrückt, daß dieser Professor ein Erstsemester zum Spielen einlädt... warum eigentlich... und warum legt er sofort am ersten Abend alle Karten offen auf den Tisch? Oder sollte er... sollte er vielleicht... der Mörder... es kann durchaus sein... er ist groß genug... er hat auch dieselbe Figur... schwere Augenbrauen, dunkelbraune Augen... er erfuhr von Simon, daß ich bei ihm Vorlesungen hören wollte... hatte Angst, daß ich ihn erkennen würde... dachte: Ich muß ihm zuvo rkommen... ich lade ihn zu mir nach Hause ein, wickele ihn ein... gebe eine traurige Geschichte aus dem Krieg zum besten... er... es könnte durchaus sein... aber warum denn...? Was ist denn eigentlich an Bord geschehen...? Oder vielleicht danach... ja, es könnte durchaus sein... darum hat er mich eingeladen... oder war er einfach neugierig, wollte er nur einmal sehen, weil ich... ach, Unsinn... er war überhaupt nicht da... an dem Samstagnachmittag... verdammt... diese Hexe, was soll ich mit der Hexe machen... die will mich... bevor man etwas merkt, sitzt man fest.«
Hester
Alle zwei Wochen radelte ich zur Eilandpolderlaan, und wir spielten Haydn, Brahms und später die beiden hinreißend schönen, aber extrem schweren Trios von Mendelssohn. Zuverlässig, wie früh ich auch kam, tauchte die Praktikumsassistentin aus den Sträuchern auf. Niemals gelang es mir, ohne sie ins Haus zu kommen. Immer saß ich neben ihr auf der Couch, wenn Hester sich kurz sehen ließ und nach einem spöttischen Lächeln wieder verschwand.
An einem Abend im Juni - war es schon Juni? Auf jeden Fall blühte der Weißdorn, also muß es Anfang Juni gewesen sein - kam ich mit dem Fahrrad aus Den Haag, wo ich in der Musikbibliothek gewesen war. Viel zu früh bog ich in die Eilandpolderlaan ein. Sollte ich es wagen zu klingeln? Oder war es besser, weiter bis zum Kanal zu fahren? Dann könnte ich dort eine Weile am Wasser sitzen. Als ich an den Sträuchern vorbeikam, sah ich Hester durch den Garten hinterm Haus schlendern.
»He, bist du schon da?« rief sie.
»Ich bin viel zu früh«, sagte ich, »ich fahre noch ein bißchen weiter zum...«
»Nein, laß doch, es ist gut, daß du zu früh bist, mein Vater hat heute mittag noch versucht, dich zu erreichen. Meine Großmutter hat einen Schlaganfall gehabt, und daher sind mein Vater und meine Mutter zu ihr gefahren. Sie haben gerade angerufen; es geht ihr
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