Das Wunder von Grauenfels (German Edition)
Straßen erhoben sich schmucklose, graue oder rötliche Hausfassaden. Die Sandstein- oder Ziegelbauten wirkten abweisend und streng. Vor allem aber sahen sie absolut gleich aus. Die Uniformitätwar erdrückend. Zwar hatte jedes Haus eine große Einfahrt in einen Innenhof, der sicher individuell angelegt war. Ab und an sah man auch gestalterische Bemühungen, Fensterbilder an den Scheiben oder Blumenkästen. Aber das half alles nichts gegen den städtebaulichen Würgegriff, in dem Grauenfels gefangen schien.
»Schaurig«, kommentierte Berit.
Aber Gina schüttelte den Kopf. »Mit etwas Farbe wäre das halb so schlimm«, meinte sie. »Guck mal, das muss alles früher mal gestrichen gewesen sein. Dieser Torbogen da zum Beispiel – wenn du genau hinschaust, siehst du auch noch eine Aufschrift und ein Hufeisen. Das war mal ’ne Schmiede. Wenn du das Haus jetzt beispielsweise hellgelb anstreichst und den Torbogen und die Fenster in einem warmen Braun abhebst, sieht das gleich ganz anders aus. Oder da, die kaputten Steintröge. Die könnte man herrichten und Blumen reinpflanzen. Und das Haus würde ich zartblau streichen, mit weiß abgesetzten Fensterrahmen. Wie Wölkchen. Mit ein bisschen Geld und Elan könnte diese Straße ein Schmuckstück werden.«
Genau an Geld und Elan schien es Grauenfels jedoch zu mangeln. Alle Versuche, die Häuser zu verschönern, blieben im Ansatz stecken, und die eher alten Autos und rostigen Fahrräder vor den Häusern trugen auch nicht dazu bei, den Eindruck zu verbessern.
Nach etwa einem Kilometer Holperstrecke, die Berit fast in Schrittgeschwindigkeit zurücklegte, erreichten sie den Ortskern. Die beiden Hauptstraßen liefen hier in einer großen Kreuzung zusammen. In ihrer Mitte lag eine Verkehrsinsel, die endlich etwas Farbe in den Ort brachte. Ein gepflegtes Blumenbeet rund um einen Brunnen versuchte sich in Verbreitung von Optimismus. Auch der Ziehbrunnen, anscheinend ein Relikt aus der Zeit, da Grauenfels noch ein richtiges Dorf war, zeigte sich bunt gestrichen und ansprechend hergerichtet.Die gelangweilten Jugendlichen mit Bierflaschen und Bürstenschnitt, die sich an den Beet- und Brunnenrändern herumlümmelten, machten das freundliche Bild allerdings wieder zunichte. Zwei der Jungs trugen Glatzen und Springerstiefel, die anderen hatten sich offenbar nicht mal zu dieser Demonstration von Protest aufraffen können. Auch die Wahl des Treffpunktes zeugte nur scheinbar vom Bedürfnis, im Zentrum des Geschehens zu stehen. Eher hatte wohl die gegenüberliegende Aldi-Filiale den Ausschlag gegeben. Sie garantierte schnellen Nachschub an preiswerten Spirituosen. Die leeren Flaschen deponierte man gleich im Blumenbeet.
»Wo finde ich denn das Geschäft von Herrn Barhaupt?« Berit hielt zwischen dem Aldi und einem Zeitschriftenladen. Gina hätte sich nicht gewundert, wenn darin noch Blätter von vorgestern feilgeboten worden wären. Ein Blick überzeugte sie jedoch vom Gegenteil. In der Auslage waren die neuesten Nummern von Lupe, Stern und Spiegel. Die Lupe befasste sich mit aktuellen PR-Kampagnen: »›Atomkraft ist Liebe‹ – Ist die Werbung noch zu retten?«
Die Jungs von der Verkehrsinsel stierten auf Berits Sportwagen wie auf eine Erscheinung aus einer anderen Welt. »Wie viel PS hat denn der?«, fragte einer, der näher kam.
»Mehr als der Durchschnitts-IQ der Bevölkerung«, bemerkte Berit. An die Jungen war der Witz jedoch verschwendet.
»IQ? Ist das nicht ein Lamborg-Hini?«, erkundigte sich eine der Glatzen.
Berit sah sich bemüßigt, die Jungen über PS und Hubraum, Höchstgeschwindigkeit und Baujahr aufzuklären. Inzwischen waren alle herangekommen und bildeten ein dankbares Publikum.
»So was möchte ich auch mal fahren«, meinte die andere Glatze sehnsüchtig.
»Schaffst du nie, Kalle, vergiss es«, höhnte sein Kumpel. »Nich mal, wennste die Lehrstelle bei Barhaupt kriegst.«
»Womit wir wieder beim Thema wären. Barhaupt. Klempner, Eisenwarenhandlung. Da wollen wir hin.« Gina fühlte sich deutlich unwohl in der Gesellschaft der angetrunkenen Jugendlichen.
Kalle überlegte kurz. Wegbeschreibungen schienen nicht sein Ding zu sein. »Geradeaus«, meinte er schließlich. »So fünfhundert Meter. Und dann rechts.«
»Rechts abbiegen?«, fragte Berit.
»Nö, einfach vor dem Laden parken. Soll ich mitfahren? Dann zeig ich’s Ihnen.« Kalle sah seine Chance. Inzwischen erwärmte er sich offensichtlich nicht nur für das Auto, sondern auch für seine attraktive
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