Das Wunder von Grauenfels (German Edition)
Sonntag. Pfarrer Herberger aus dem Nachbarort tobt deswegen, aber weder er noch der Bischof können den Leuten verbieten, Kerzen schwenkend und Lieder singend durch den Wald zu ziehen. Was ist mit dem Projektor? Was haben Sie überhaupt für ein Equipment?«
Merlots Mimik verzog sich wieder mal in Richtung spöttisch-unnahbar. »Die Geheimnisse des Magiers …«, setzte er an.
Gina verdrehte die Augen. »Hören Sie, ich kann zwar keine Kaninchen aus dem Hut zaubern, aber ich bin Grafikerin. Ich hab schon unzählige Male mit Dias gearbeitet, und wie Projektionen funktionieren, brauchen Sie mir beim besten Willen nicht zu erklären. Mit Ihren speziellen Gerätschaften kennen Sie sich zwar garantiert besser aus, aber ich kenne dafür dieses Waldstück wie meine Westentasche. Also wollen Sie mich jetzt aufklären, in welcher Entfernung zur Wand Sie arbeiten wollen und wie viel Platz der Aufbau benötigt, oder haben Sie das dringende Bedürfnis, allein das ideale Versteck zu finden? Dann lassen Sie sich aber auch allein nass regnen! Wenn Sie mich nicht brauchen, habe ich’s im Büro gemütlicher.«
Merlot sah sie reumütig an. »Ich weiß, ich bin albern«, gab er zu. »Also: angenommen, die Erscheinung in zehn Meter Höhe, dann benötigen wir einen Abstand von der Wand von, sagen wir mal, fünfzig Metern. Relativ wenig Equipment, leicht zu tragen. Wo würden Sie aufbauen?«
Nach einer weiteren, feuchten halben Stunde im Wald hatten Gina und Merlot das ideale Versteck gefunden und waren endgültig per du. Der Magier würde seine Ausrüstung in eben jenem alten Hochsitz aufbauen, den Gina und Berit als Ausguck bei den ersten Erscheinungen benutzt hatten. Er müsste allerdings noch etwas besser getarnt werden. Außerdem sollte die Leiter weg.
»Wäre schließlich ein böses Foul, wenn ich da am Tag der Tage hinkomme, und der Ausguck ist schon belegt …«
Auf dem Rückweg ins Büro machten die beiden kurz Halt bei Lohmeier und tranken einen wärmenden Klosterschnaps auf den ersten Planungsschritt. Entsprechend heiter gestimmt erreichten sie anschließend Ginas und Berits Büro und warfen Ginas Computer an. Sie hatte schon etwas vorgearbeitet.
»Das Kleid nehmen wir von der Hochzeit von Prinzessin Diana. Daran hatte ich den Zeichnungsentwurf orientiert, da bleiben wir jetzt auch dabei. Nur die Puffärmel mache ich noch weg.«
Gina rief ein Hochzeitsfoto der Prinzessin auf und entfernte Prinz Charles in demselben Tempo vom Bildschirm, in dem Merlot gewöhnlich seine Kaninchen verschwinden ließ. Ein paar Mausbewegungen später war auch das Kleid etwas schlichter gestaltet.
»Fragt sich nur, welches Gesicht wir jetzt nehmen.«
Gina ließ verschiedene Gesichter junger Frauen nacheinander über den Bildschirm flackern. So richtig zufrieden war sie bisher allerdings mit keinem davon.
»Dies hier, das hat was Orientalisch-Geheimnisvolles … Das find ich schon irgendwo gut …«
»Aber es fehlt die menschliche Wärme«, meinte Merlot. »Die guckt zu verführerisch. Die Blonde eben war irgendwie mütterlicher.«
»Aber sonst sah sie aus wie Barbie. Warte mal, wenn ich die beiden übereinander lege …«
Gina stellte mit wenigen Mausklicks ein drittes Gesicht aus den beiden ersten zusammen.
»Nee, das wirkt künstlich. Obwohl die Kombinationsidee gar nicht schlecht ist, die zwei müssen nur besser zusammenpassen.«
»Warum nehmt ihr nicht gleich das Original als Ausgangsgesicht?«, fragte Berit mit einem beiläufigen Blick auf den Bildschirm. »Ich meine, der Ausdruck dieser Prinzessin passt doch ideal: ›Königin der Herzen mit gütig-glücklichem Blick auf ihr Volk‹. Was wollt ihr mehr?«
Merlot sah das Hochzeitsbild der verblichenen Prinzessin genauer an. »Keine schlechte Idee. Wenn man da das Gesicht von der Orientalin drüberlegt …«
Gina nahm die entsprechenden Veränderungen vor. Das Ergebnis war verblüffend.
»Ich würd vielleicht noch einen Schuss Shari Belafonte drüberlegen«, meinte Berit. »Weil – also wenn wir jetzt textlich das ganze Madonnenbild reformieren, dann will ich auch verschiedene Rassen in ihr gespiegelt sehen. Gib ihr einen Tropfen schwarzes Blut, bitte!«
Gina suchte nach entsprechenden Fotos und arbeitete eine Viertelstunde lang intensiv an ihrer Kreation. Dann stand der Entwurf: Eine strahlend schöne, rassisch nicht zu definierende junge Frau im weißen Kleid, die Kapuze ihres weiten, blauen Mantels leicht nach hinten verrutscht, sodass der Blick auf langes, schwarzes Haar
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