Das Wunder von Grauenfels (German Edition)
Erscheinungsplatz. Nach Elfis Sturz hatte Barhaupt den Parallelweg zum Pilgerpfad planieren lassen. Den zogen die Mädchen jetzt mit ihrem Gefolge hinauf, frontal auf die Felswand zu, auf die Merlot die Erscheinung projizieren würde.
Die Wanderung verlief quälend langsam. Viele der Pilger waren nicht sonderlich gut zu Fuß, dazu schien Singen und gleichzeitiges Wandern die meisten zu überfordern.
Berit schaute genervt auf die Uhr. Wenn es nur nicht noch anfing zu regnen und zu früh dunkel wurde. Die Lichtverhältnisse mussten genau stimmen, damit die Erscheinung so ankam, wie geplant. Wenn das überhaupt klappte – eine Generalprobe war in Anbetracht der stetigen Pilgerströme nicht möglich gewesen. Gina öffnete die erste Chipstüte. Sie fühlte sich in ihren schlimmsten Ahnungen bestätigt, als tatsächlich leichtester Sprühregen aufkam, während die Gruppe das Wäldchen verließ und auf die Lichtung vor der Felswand trat. Von irgendwoher donnerte es sogar. Oder lieferte Merlot auch einen Soundtrack? Auf jeden Fall begann er seine Show exakt in dem Moment, in dem die Prozession stockte, weil die Pilger ihre Schirme herauskramten. Von einem Moment zum anderen wurde die Szenerie in blendend helles Licht getaucht, dazu ertönte weiterer Donner. Nach zwei Blitzen wirkte das frühabendliche Zwielicht im Steinbruch fast bedrohlich.
Claudia und Sophie fielen wie verabredet auf die Knie, flüsterten etwas wie »Nicht vermutet …«, und in der Pilgergruppe brach Chaos aus. Ein Teil der Leute ließ sich ebenfalls auf die Knie fallen, einige sangen weiter, andere gaben ihrer Verwunderung oder ihrem Erschrecken Ausdruck. Und dann schien die Luft zu vibrieren, ein Flimmern brach sich durch den Sprühregen, und ganz kurz – später waren sich alle einig, dass es nur Bruchteile von Sekunden gedauert hatte – flammte das Bild einer wunderschönen, sich den Menschen zuwendenden jungen Frau vor den Augen der Pilger auf.
Im Anschluss an die Erscheinung brach ein Tumult los. Die Pilger hatten sich fast alle zu Boden geworfen. Nur einige wenige starrten wie gebannt auf die jetzt wieder dunkle Felswand. Die Mädchen sprachen brav weiter ihren Text, aber kaum jemand hörte ihnen zu. Claudias und Sophies leise Stimmen wurden vom Schluchzen, Schreien und Beten der restlichen Erleuchteten völlig übertönt.
Es dauerte endlos, bis sich die Szene beruhigte und die Pilgerihren Schrecken überwanden. Während sie lachten und weinten, sich umarmten und schließlich wieder sangen, trat Igor Barhaupt zu Berit und Gina.
»Beeindruckend«, murmelte er und raufte seinen Bart. »Meine Güte, von jetzt an werden die Leute in Scharen kommen! Könnte man nicht jeden Freitag …?«
Berit schüttelte missbilligend den Kopf. »Wir sind doch nicht im Zirkus! Aber das bringt uns die nächsten Tage in jedem Fall Schlagzeilen. Und warten Sie erst mal ab, bis die Mädchen erzählen, was sie gesagt hat!«
Claudia wartete mit ihren Enthüllungen, bis sich alles einigermaßen beruhigt hatte. Dann erwachte sie langsam aus ihrer gespielten Trance und ließ die Pilger an den Worten der »Dame« teilhaben.
»Unsere Freundin war ziemlich nölig wegen dieses Schreibens vom Bischof«, erklärte sie kurz und bündig, was ihr die angespannte Aufmerksamkeit der Zuhörer einbrachte.
»So hat sie das nicht gesagt«, schränkte Sophie ein. »Sie sagte: ›Wir trauern darum, dass die, welche glauben sollten, an uns zweifeln. Die Worte des Schäfers haben mich bedrückt – muss er wirklich den Blitz sehen, bevor er die Herde eintreibt? Genügt es nicht, den Donner zu hören? Reicht es nicht, wenn ein paar Lämmer unter den Schutz des Hauses des Vaters streben?‹«
»Na ja, sie drückt sich ja immer etwas umständlich aus«, meinte Claudia. »Und dann sagte sie jedenfalls noch, sie wollte heute die wahrhaft Gläubigen einen Blick auf die Mutter dessen werfen lassen, der da sitzen soll auf des Königs Thron.«
»Princess Di und Prinz William …« Berit grinste. »Soll keiner sagen, dass wir lügen.«
»Und sie würde uns nicht verlassen«, fügte Sophie hinzu. »Sie würde wie immer an jedem zweiten Sonntag bei uns seinund mit uns sprechen und unsere Gebete und Fragen hören. Dann war sie weg. Haben Sie … haben Sie sie diesmal wirklich alle gesehen?«
Gina war sehr verwundert, als Merlot kurze Zeit später zu ihnen stieß. Die Pilger waren noch ganz erfüllt von ihrem Erlebnis, folgten Claudia und Sophie jetzt aber zur Quelle, um dort die vorgesehene
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