Das Wunder von Grauenfels (German Edition)
ankündigen? Sie sind drei Stunden zu früh!«
Gina nahm ihr den Hörer ab. »Igor, ich kann nichts versprechen, aber ich hab eine Idee. Die Leute von Mary’s Corner – das irische Pub, Sie wissen schon – sind mir was schuldig, und die haben doch heute Eröffnung. Wollten sie ganz groß nach der Erscheinung aufziehen. Vielleicht krieg ich sie dazu, dass sie zwei Stunden früher aufmachen. Sind doch Landsleute von den Murphys. Vielleicht freuen sie sich sogar.«
Der Besitzer von Mary’s Corner freute sich nicht nur, sondern geriet regelrecht in Ekstase, als Gina ihm die Murphy Family avisierte. Bereitwillig öffnete er nicht nur seinen Laden, sondern stellte auch das eigentlich für die Eröffnungsfeier bestimmte kalte Buffet für die Folk-Sänger zur Verfügung.
»Oh, Mann, das ist ein Wunder! Die Murphy Family kommt zu meiner Eröffnung! – Davon werde ich noch meinen Kindern und Kindeskindern erzählen. Für die anderen Gäste bestell ich dann nachher einfach Pizza.«
Sophie nahm die Sache nicht so leicht. In der Kleiderfrage so plötzlich auf die Auswahl zwischen Jeans und Parka und Jeans und Pulli reduziert zu werden ließ sie fast in Tränen ausbrechen.Schließlich lieh ihr Berit einen hocheleganten Baumwollstrick-Pullover von Jil Sander. Zu Sophies engen Jeans sah das hinreißend aus.
»Damit darfst du jetzt aber nicht in Ohnmacht fallen!«, warnte Berit. »Wenn der mit dem Waldboden in Berührung kommt, gibt’s gleich Flecken.«
Ein paar Minuten später parkte dann tatsächlich der Tour-Bus der Murphy Family im Halteverbot vor Mary’s Corner . Die Jungen und Mädchen der Band hatten sich offensichtlich weniger Gedanken um ihr Outfit gemacht als Sophie, die mit glühenden Wangen neben Claudia stand und die Sänger erwartete. Die Murphys purzelten in buntem Zigeunerlook aus dem Bus. Anscheinend hatte jeder morgens einfach das angezogen, was gerade herumlag. Gina zählte fünf Mädchen zwischen dreizehn und zwanzig und vier Jungen, zwei davon noch vor dem Stimmbruch. Sophie stellte sie als Brian und Teddy vor. Ian war mit zweiundzwanzig der Älteste der Gruppe, der sechzehnjährige Marvin galt als Zuschauerliebling. Berit und Gina erschloss sich das nicht so ganz. Der stämmige Knabe hatte für ihre Verhältnisse etwas zu weichliche Züge, und sie fanden es auch gewöhnungsbedürftig, dass sein rotblondes Haar bis zur Hüfte reichte, teilweise eingeflochten war und seit mindestens zehn Tagen nicht gekämmt schien. Auf Mädchen zwischen zwölf und fünfzehn, offensichtlich die Hauptzielgruppe der Band, wirkte er jedoch unwiderstehlich. Sophie schmachtete ihn an, und auch andere Grauenfelser Jugendliche hatten sich schon vor dem Pub versammelt. Wie sie von der Sache erfahren hatten, war Berit und Gina rätselhaft.
Jetzt intonierten sie jedenfalls lauthals die Namen ihrer Stars und kreischten, während Marvin ihnen freundlich zuwinkte. Der Pub-Besitzer machte ein Foto nach dem anderen.
»Die benehmen sich, als käme der Messias persönlich«, meinte Igor Barhaupt kopfschüttelnd und floh ins Pub. »Kann mir einer sagen, was an den Typen so dran ist?«
»Fragen Sie Sophie.« Berit grinste und biss in ein Lachsbrötchen. »Die schaut, als hätte sich ihr eben der Himmel aufgetan. Und wie’s aussieht, scheint dieser Marvin sie zu mögen. Zu gönnen wär’s ihr ja. Außerhalb ihrer Tanzerei hat sie schließlich kaum Kontakte, und in Ballettschulen wimmelt es bekanntlich nicht gerade vor potentiellen Sexualpartnern.«
Sophie stand neben Marvin Murphy und wirkte glücklich bis zur Verklärung. Die Aufregung hatte leichte Röte auf ihre blassen Wangen gezaubert, ihre großen Augen leuchteten, und ihr dunkles Haar, nach dem raschen Fußmarsch vom Bürgermeisteramt bis zum Pub ein wenig regenfeucht und verwirrt, umrahmte betörend ihr Schneewittchengesicht. Marvin Murphy behandelte sie wie ein perfekter Gentleman. Die Murphys mochten zwar wie Hippies aussehen, schienen aber gut erzogen und sehr diszipliniert. Sophie wirkte wie in einem glücklichen Traum, als Marvin sie mit Cola und Snacks versorgte und ihr zwischendurch lange, intensive Blicke aus seelenvollen, langbewimperten Augen schenkte. Der Junge hatte einen bezaubernden englisch-irischen Akzent, den er zweifellos kultivierte, und befragte sie aufmerksam nach ihren Tanzstunden, ihren Zukunftsplänen und natürlich der Marienerscheinung.
»Es muss amazing sein … eine ganz, ganz große Auszeichnung! Du musst dich fühlen so …
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