Das Wunder von Grauenfels (German Edition)
»Sehen wir uns wieder?«
Marvin schaute irritiert. »Bestimmt. Sicher. Wenn wir geben eine Konzert, und du bist in die Stadt. Einfach Bescheid sagen, dann du kriegst Karten, ja …«
»Ich bin demnächst in Berlin zu einer Talkshow …«
Die Murphys lebten in einem denkmalgeschützten Haus in Schöneberg.
»Das ist schön«, meinte Marvin, allerdings ohne große Begeisterung. »Wenn wir werden da sein, du kommst in Konzert, ja?«
Sophie nickte verklärt.
Schließlich verabschiedete sich Marvin mit zwei Küsschen von Sophie, allerdings auch von Claudia. Die anderen Bandmitglieder umarmten die Mädchen ebenfalls.
»Er hat mich geküsst …«, flüsterte Sophie, als der Tour-Bus vom Steinbruch rollte. »Drei Mal. Und er will mich wiedersehen …«
*
»Warum wollten sie bloß das mit der Homosexualität wissen?«, fragte sich Gina. Im Laufe des Nachmittags war der Erscheinungsrummel abgeflaut, die Touristenbusse abgefahren, und die Crew konnte aufatmen. Igor Barhaupt, fast trunken vor Erleichterung und glücklich über die neuen Besucherrekorde, die Grauenfels heute verzeichnen konnte, lud alle zu einem Eis und einem Sekt in seinem Wintergarten ein.
»Da können wir richtig feiern! – Bei Lohmeiers sitzen mir jetzt noch zu viele Pilger. Die Mädchen hätten keine ruhige Minute.«
Ganz offen konnten die Verschwörer auch im Hause Barhaupt nicht reden, denn Frau Martens hatte sich angeschlossen. Aufgeregt erzählte sie von der spirituellen Kraft, die Vater Murphy aus seinem festen Glauben an die Jungfrau und das Talent seiner Kinder schöpfte. »Es war ein ganz besonderes Erlebnis, die innere Stärke dieses Menschen zu teilen und an seiner Andacht teilzuhaben.«
Berit zuckte bei den Worten angewidert zusammen. »Wenn ich mich recht erinnere, hatte er vor ein paar Jahren noch das Jugendamt am Hals, weil er seine Kinder nicht zur Schule schickte, sondern auf der Straße betteln ließ …«, gab sie zu bedenken. Die Lupe und andere Zeitschriften hatten mehrmals kritisch über die Ausbeutermethoden des Familienoberhauptesberichtet. Bei der Gelegenheit fiel Berit ein, dass sie Ruben seit der Erscheinung nicht mehr gesehen hatte. Er war an der Quelle gewesen, danach aber plötzlich verschwunden. Hoffentlich nicht wieder ein Ruf nach Borunji oder an irgendein anderes exotisches Ziel!
Dann griff Gina jedoch die Frage der Murphys an die Jungfrau auf. »Im Ernst, ist von denen einer schwul?«
»Gucken Sie mich nicht so an, man kann’s einem nicht an der Nase ansehen«, meinte Pastor Jaeger. »Gerade nicht den Typen im Showgeschäft, die sind doch gewöhnt, es geheim zu halten.«
»Also ich glaube, es ist Ian«, mutmaßte Claudia und nahm sich ein zweites Eis. »Du auch noch was, Sophie? Sophie! Aufwachen. Du musst es essen, bevor es sich in Matsch verwandelt …«
Sophie rührte nur abwesend in ihrem Eis herum und sagte allenfalls gelegentlich Dinge wie: »Er hat gesagt, dass die Komposition von Ballettmusik ihn auch reizen würde …«, oder: »Er liebt Tschaikowsky.«
»Ian ist schon zweiundzwanzig und noch nicht verheiratet. Von einer Freundin hat man auch noch nie was gehört.« Claudia sprach, als würde sie laut denken.
Die Erwachsenen lachten.
»Ich bin schon vierunddreißig und auch nicht verheiratet«, grinste Merlot. »Muss ich da an meiner sexuellen Orientierung zweifeln?« Er zwinkerte Gina zu.
»Und was die Freundin angeht – das kann vom Management so gedreht sein«, erklärte Berit sachlich. »Die meisten Boygroup-Mitglieder müssen sich sogar vertraglich verpflichten, zumindest am Anfang alle Beziehungen geheim zu halten. Die leben doch von den Hoffnungen der Fans. Und die Mädels hängen sich kaum das Poster von jemandem an die Schlafzimmerwand, der gerade mit einer anderen das Bett teilt.«
»Aber Marvin macht die Mädchen doch ganz offen an, ohne dass sein Daddy ihm eins draufgibt«, meinte Claudia mit einem Seitenblick auf die ganz in ihre Verliebtheit versunkene Sophie.
»Das ist es ja«, murmelte Gina, »was mich so nervös macht.«
*
Am nächsten Tag waren die Klatschspalten der Zeitungen voll vom Besuch der Murphys in Grauenfels. Sophie war so oft abgebildet, dass sie sich vor Scham kaum in die Schule traute. Claudia versicherte ihr allerdings, die anderen Mädchen würden garantiert eher neidisch als spöttisch reagieren. Sophie sah auf sämtlichen Fotos fast überirdisch hübsch aus.
Auch die Stellungnahme der Jungfrau zur Homosexualität machte Schlagzeilen. Der Bischof war
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