Das Wunder von Treviso
In der Tat: Luisa übertraf ihre eigenen Erwartungen um Längen.
Die Trauungszeremonie war für elf Uhr am Vormittag angesetzt. Gegen halb elf war die Kirche bereits so voll wie lange nicht, und man plauderte angeregt, während sich die ungezogenen Kinder im Mittelgang ein Gefecht mit ihren Wasserpistolen lieferten, in dessen Folge drei durchnässte Hello-Kitty-Shirts, der Verlust zweier Spongebob-Krawatten und nicht weniger als sechs ruinierte Gesangbücher zu beklagen waren. Der Pater lief nervös in der Sakristei auf und ab und ging noch einmal seine kurze Predigt durch, als Maria durch den Hintereingang zu ihm trat.
«Na, Bruder, alles bereit?»
«Hm, ja, hm …», war die Antwort des Paters.
«Dann lass ich dich mal allein.» Maria hatte kein Verständnis für die Aufregung ihres Bruders. Eine Hochzeit war eine Hochzeit. Was sollte da großartig schiefgehen? Als sie von der Sakristei in den Kirchenraum ging, streifteihr Blick kurz die vordere linke Seitenloge, in der sie aus dem Augenwinkel eine Madonnenstatue wahrnahm. Hatte die dort gestern auch schon gestanden? Doch als im selben Augenblick die Orgel zu spielen begann, vergaß Maria den Gedanken wieder und begab sich schnell an ihren Platz.
Der Pater folgte seiner Schwester wenige Augenblicke später auf demselben Weg von der Sakristei zum Altarraum. Auch sein Blick streifte die Madonna, und er hoffte, sie würde nach Möglichkeit keine Aufmerksamkeit erregen. Die Zeit war noch nicht reif für ein Wunder, aber wenn die Madonna erst einmal einige Wochen dort stand, wo sie nun war, und er das Gefühl hatte, dass der richtige Augenblick gekommen war, dann würde … Und in diesem Moment entdeckte Don Antonio seinen neuen Freund Salvatore in einer der hinteren Reihen der Kirche. Der Pater wäre vor Schreck fast über den Absatz zum Altarraum gestolpert, als Salvatore auch noch die Hand hob und ihm grinsend zuwinkte. Don Antonio ignorierte ihn nach Kräften. Zum Glück hob die Musik in diesem Moment zum Hochzeitsmarsch an, und die Aufmerksamkeit aller konzentrierte sich auf den Einzug der Braut im hinteren Teil der Kirche. Nur eine einzige Person im Raum hatte die seltsam vertraute Geste Salvatores bemerkt – und sah taktvollerweise darüber hinweg.
Die Zeremonie begann. Man sang, man betete, man erhob und setzte sich wieder, man sang erneut, und der Pater begann sich zu entspannen und sogar die Trauungseiner Nichte zu genießen. Er sah die Blumen, er sah Luisas Lächeln, er hörte die Gemeinde lachen, als er eine kleine Kindheitsanekdote zum Besten gab, und seine Hände waren wieder trocken, als er sie dem Paar zum Segen auflegte. Eine wunderbare Hochzeit, dachte Don Antonio, ein wunderschönes Paar, ein wundervoller Sommer. Und da geschah das Unfassbare: Ein Handy klingelte. Irgendjemand in der dritten Reihe – wahrscheinlich ein Freund des Brautpaares aus der Großstadt – hatte es nicht abgeschaltet und zerstörte nun mit einem aufdringlichen Klingelton die feierliche Stille nach dem Segen.
Der Pater rang um Fassung, die Gemeinde kicherte, das Brautpaar schmunzelte, der Freund schaltete das Handy, nachdem er es ein paar Sekunden lang in seinen Anzugtaschen gesucht hatte, peinlich berührt ab. Und in diesem Moment kam ein Aufschrei von Sofia Bortolotti, heute in einem kurzärmeligen, gelben Zweiteiler: «Ein Wunder! Madonna, da, seht!» Ihr Finger zeigte in Richtung der Nische im vorderen linken Kirchenschiff, in deren Nähe der Handybesitzer nun etwas schuldbewusst saß, denn dort stand die blinde Madonna von Treviso, und aus ihren Augen rannen blutrote Tränen.
Zweiter Teil
1
Die Straße hieß zwar offiziell Calle delle Salute, aber die Einwohner Trevisos nannten sie nur Calle della Santa Maria, denn früher waren hier stets die Prozessionen an Mariä Himmelfahrt durchgekommen. Es war also keineswegs ungewöhnlich, beim Blick auf das Straßenschild an Maria zu denken, selbst wenn gar nicht Maria darauf stand. Luigi dachte allerdings in letzter Zeit sehr oft an Maria, ganz gleich, aus welchem Anlass. In letzter Zeit ging er auch sehr viel spazieren. Ein wenig Bewegung kann nicht schaden, dachte er. Und wenn man auf dem Weg in den Supermarkt, zu Massimo oder zu den Überresten der Römerstraße einen Bekannten traf, dann konnte man ein bisschen plaudern. Und wenn man jeden Mittwoch und Samstag um 10.35 Uhr, während Don Antonio üblicherweise die Beichte abnahm, genau vor Vitos Laden spazieren ging, dann konnte es passieren, dass man dort
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