Das Wunder von Treviso
würde. Wenn die Pilgertouristen in Massimos Trattoria essen und in Vito Corrisis Laden in Treviso einkaufen würden, wer würde dann noch in Castello essen und einkaufen? Es waren ernstzunehmende Einbußen zu erwarten, und das Gerücht, dass die schlechte Enoteca Trevisos nun auch noch ein eigens kreiertes Pilgerprodukt auf den Markt bringen würde, verstärkte bei den Castellesen nur noch das Gefühl, dass dringend etwas getan werden musste.
Nun war es so, dass man Treviso mit dem Auto nur über die Zufahrtsstraße von Castello aus erreichen konnte. Was lag also näher, als ebendiese Zufahrtsstraße zu sperren und so Treviso seine touristische Lebensader zu kappen?
Zunächst einmal wurde mit rot-weißen Plastikbändern, Warndreiecken und dem Hinweis auf langwierige Bauarbeiten die Ortsausfahrt in Richtung Treviso gesperrt.Stattdessen leitete man den Verkehr auf geheimnisvoll verschlungenen Pfaden quer durch Castello und auf die hintere Ausfahrtsstraße um, von wo aus der Weg nach Treviso nicht nur doppelt so lang, sondern für Fremde quasi unmöglich zu finden war, führte er doch auf gepflasterten Wegen durch Weingärten und nicht weniger als fünf Kreuzungen zu einem unbeschilderten Kreisverkehr, an dem man schließlich bei der zweiten Ausfahrt abbiegen musste, um nach Treviso zu gelangen.
Blieb noch der Bus. Die Linie 174 verkehrte täglich mehrmals zwischen Castello und Treviso, und nicht wenige Menschen, auch aus Castello, waren darauf angewiesen, weshalb man die Linie wohl kaum zur Gänze einstellen konnte. Stattdessen sannen die Einwohner Castellos auf den wahrhaft teuflischen Plan, die Bushaltestelle vom Zentrum des Ortes in eine völlig uneinsichtige Nebenstraße zu verlegen. Doch damit nicht genug, sie änderten auch den Fahrplan. Fortan fuhr der Bus der Linie 174 acht Minuten früher ab, als es in den öffentlichen Fahrplänen verzeichnet war, und nur die Haltestelle in Castello zeigte den Reisenden die richtigen Zeiten an. Dem Rest der Menschheit wurden dagegen bereitwillig die alten Fahrpläne in die Hand gedrückt und viel Glück bei der Weiterreise nach Treviso gewünscht.
So kam es, dass es bis zum 3. Oktober dauerte, bis ein Trupp völlig erschöpfter und leicht verwirrter Katholiken aus Wuppertal als erste Pilgergruppe Trevisoerreichte, versehen mit einigen zweifelhaften Souvenirs und einer Kuppeltorte aus Castello im Gepäck, um das Wunder der weinenden Madonna zu bestaunen.
5
Die leere Auslage des ehemaligen Blumengeschäfts von Ernesto Brasini riss eine unansehnliche Lücke in das Ortsbild. Wo früher Blumen, Übertöpfe und Düngemittel zu sehen waren, gab es jetzt nur noch eine trübe Glasscheibe, die mit Zeitungspapier abgeklebt war und über welcher der beschädigte Schriftzug «Bras nis B umengesc äft» zu lesen stand.
Wie traurig, dachte Maria, die sich gut daran erinnern konnte, dass ihr verstorbener Mann seine ersten Blumen für sie bei Ernesto Brasinis Vater gekauft hatte. Wie lange war das her? Jetzt mussten die Trevisaner ganz bis nach Castello fahren, um ein paar Rosen zu erstehen.
Maria liebte Blumensträuße, je größer, desto besser. Sie waren schön, sie waren teuer, und weil sie nur so kurze Zeit hielten, waren sie außerdem herrlich dekadent. Trotz ihrer knapp bemessenen Witwenpension kaufte sie sich mit schöner Regelmäßigkeit jeden Freitag einen Strauß Blumen, ganz so, wie ihr Mann es zu Lebzeiten immer für sie getan hatte. Als er starb, setzte sie die Tradition allein fort und bestückte die Vase auf ihrem Küchentisch wöchentlich mit frischen Callas,Margeriten oder Freesien, den Lieblingsblumen ihrer Nonna Cristina.
Sie wollte gerade weitergehen, als ihr Blick auf eine Zeitungsanzeige fiel, die in Sichthöhe hinter der abgeklebten Schaufensterscheibe hing und weitere Erinnerungen in ihr aufsteigen ließ – an Musik, glitzernde Kristalllüster und an einen fatalen Besuch beim Friseur, der ihr einen Bubikopf verpasste, weil der Kaugummi, den ihr Bruder Antonio in ihrem Haar verteilt hatte, nicht mehr anders zu entfernen gewesen war. Da wurde Maria schlagartig klar, dass die Zeiten, in denen sie sich freitags ihre Blumen selbst kaufen musste, womöglich vorbei waren. Vor ihr hing eine Anzeige der Mailänder Scala für eine Wiederaufnahme des «Barbiers von Sevilla». Und auf einmal, so schien es Maria, tauchte vor ihrem inneren Auge neben all den Erinnerungen auch ein Bild aus der Zukunft auf, in der ein gewisser Barbier von Treviso eine entscheidende
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