Das Wunder von Treviso
damit im Ortsbild in etwa so gut aus wie ein dreckiger Gummistiefel in der Auslage bei Salvatore Ferragano, aber immerhin hatte man wieder eine funktionierende öffentliche Toilette, und das war doch auch schon etwas. Die örtliche Grundschule hatte ihre Schaukästen neu dekoriert und Bilder von der weinenden Madonna, gezeichnet von der Klasse 3b, hineingehängt. Und nicht zuletzt hatte man ein großes Spruchband über den Ortseingang gespannt, unter dem jetzt die zwei bis drei Reisebusse parkten, die täglich ihren Weg nach Treviso fanden, und auf demgeschrieben stand: «Treviso heißt seine Pilger herzlich willkommen!»
Eigentlich aber waren es die Pilger selbst, welche die bei weitem größte Veränderung des Ortsbildes bewirkten, denn sie waren quasi überall anzutreffen: in Vitos Supermarkt, in Massimos Trattoria, im Blumenladen, auf dem Marktplatz und natürlich in und um die Kirche von Treviso. Es waren kleine, freudig willkommen geheißene Fremdkörper in der tourismushungrigen Gemeinde, die man gewinnbringend glücklich machen wollte. Und sie ließen es tatsächlich mit sich machen. Sie aßen und schliefen bei Massimo, sie kauften bei Vito, ja sie gingen sogar zu Luigi, um sich kurz entschlossen neu frisieren zu lassen. Begeistert fotografierten sie die pittoresken Ecken des Dorfes, als da wären das Rathaus, die Blumenkästen der Signora Fiorentini und die Katze der Bürgermeistersgattin, und sie schwelgten in dem, was Treviso zu bieten hatte, nämlich relativ gutes Essen, eine freundliche Atmosphäre und die bereits mehrfach erwähnte Römerstraße.
Höhepunkt eines jeden Pilgeraufenthalts war natürlich der Besuch einer Messe in der Kirche von Treviso, wo man die weinende Madonna sehen und zu ihr beten konnte. Nicht wenige fuhren kurze Zeit später, um ihr Pilgerurlaubsgeld erleichtert, aber dafür um eine spirituelle Erfahrung reicher, wieder nach Hause und waren zufrieden.
Eigentlich war alles so, wie es sich Don Antonio erträumt hatte. Wären da nicht diese Briefe gewesen!
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Lieber Mitbruder,
nach einem uns vorliegenden Bericht und vorläufigem Gutachten durch Bischof Lorenzo Santini wurde uns zur Kenntnis gebracht, dass sich in der Pfarrei von Treviso die folgende außernatürliche Erscheinung ereignet haben soll:
C.5.551 weinende Madonna, Tränen blutrot
Kategorie: Mad.-Stat./200111
Wir bitten Sie, die beigelegten Formulare P3.441, G4.441 sowie die Formulare Mad/Stat. C551-C555 auszufüllen, damit eine baldige Überprüfung des Vorfalls durch unsere Kommission erfolgen kann, und weisen Sie darauf hin, dass sämtliche Veröffentlichungen, Publikationen, Werbung etc. in Printmedien, Funk, TV, Internet etc. die genannte Erscheinung betreffend mit sofortiger Wirkung und unter Strafandrohung zu unterlassen sind, bis ein Urteil der Kommission vorliegt. Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an die untengenannte Stelle.
Mit gesegnetem Gruß,
Francesco de Renzi, Beauftragter der Untersuchungskommission des Vatikans
Das war der erste Brief. Don Antonio beschloss, so zu tun, als hätte er ihn nicht erhalten. Dann kam der zweiteBrief, in dem er wiederholt zum Ausfüllen diverser Formulare aufgefordert wurde. Auch den ignorierte Don Antonio geflissentlich. Der dritte Brief war schon wesentlich unfreundlicher als die beiden Vorgänger, und Don Antonio bekam Magenschmerzen, wenn er las:
… bitten daher dringend um Beantwortung unserer Schreiben vom … und fordern Sie unverzüglich auf, alles zu unterlassen, was einer Bewerbung der genannten Erscheinung gleichkommt. Sollten Sie unserer Forderung nicht nachkommen, droht in diesem Fall ein Verfahren nach Artikel 33c.
Don Antonio las im Kleingedruckten nach, was Artikel 33c bedeutete: Es war die Ankündigung seiner bevorstehenden Exkommunikation. Von diesem Tage an war Maria nicht mehr die einzige Person im Haushalt, die sich ab und an ein Glas Wein zu viel gönnte. Doch es kam noch schlimmer.
Einen Tag nachdem Salvatore Tarlo Don Antonio aufgesucht hatte, weil er sich ernstlich Sorgen um seinen Freund machte, kündigte der Vatikan sich in Person des Abgesandten Francesco de Renzi höchstpersönlich an, und zwar für Mittwoch, den 20. Januar, gegen 10 Uhr. Sowohl Salvatore als auch Don Antonio war klar, was sie zu tun hatten, und es würde ihnen unter den gegebenen Umständen nicht schwerfallen, das achte Gebot zu brechen. Sie hofften inständig, dass dies ausreichen würde, um den vatikanischen Kommissar zu
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