Das Wunder von Treviso
Francesco de Renzi in Treviso eintreffen würde, um das Wunder der weinenden Madonna zu begutachten. Das hätte er sich vielleicht sparen können, denn bereits einen Tag vor Weihnachten ersann Don Antonio einen Plan zur Rettung Trevisos.
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Es war der 23. Dezember, und Don Antonio war voll mit den Vorbereitungen fürs Weihnachtsfest beschäftigt, indem er seiner Nichte diktierte, welche Pilgergruppen sie wann, wie und wo in Empfang zu nehmen, zu betreuen und wieder heimzuschicken hatte. Die rettende Idee verdankte er einer leicht zerstreuten Pilgerin aus Edinburgh. Am Tag ihrer Abreise aus Treviso hatte Mrs. MacLoughlin einen ihrer zwei Hartschalenkoffer an der Bushaltestelle von Treviso vergessen und bemerkte es erst nach viereinhalb Stunden. Nach einigen aufgeregtenTelefonaten stellte sich heraus, dass der Koffer immer noch an der Bushaltestelle der Linie 174 darauf wartete, seine Heimreise anzutreten. Luisa hatte ihn während einer Tour zur Römerstraße zufällig entdeckt. Mrs. MacLoughlin hatte anderes vermutet, wie sie Luisa am Telefon aufgeregt erzählte, nämlich dass ihr der Koffer vorsätzlich gestohlen worden sei. Sie sagte tatsächlich «vorsätzlich», und Luisa fragte sich, wie man wohl etwas unbeabsichtigt stehlen konnte, und schickte ihren Onkel los, um das gute Stück einzusammeln.
Als Don Antonio nun am Abend des 23. Dezember unter stillen Flüchen die Haltestelle der Linie 174 erreichte, sah er den Koffer und beschloss, die Kriminalitätsrate in Treviso zu steigern: Mrs. MacLoughlin sollte das gute Stück nie wiedersehen, denn Don Antonio dachte gar nicht daran, es nach Hause zu bringen, um es anschließend mit der Post nach Edinburgh zu verschicken. Vielmehr schleppte er den Koffer unter Mühen und in heller Panik, dabei gesehen zu werden, zur Kirche, verstaute ihn im hintersten Winkel der Krypta und verkündete seiner Nichte, dass der Koffer nicht mehr an der Bushaltestelle gestanden habe und somit gestohlen worden sei. Mrs. MacLoughlin gegenüber bedauerte man diesen Vorfall zutiefst, hoffte aber, sie dennoch bald wieder in Treviso begrüßen zu dürfen. Am Heiligen Abend wusste ganz Treviso um das tragische Schicksal des Koffers. Man war sich darüber einig, dass man in einer kriminellen Welt lebte und gut daran täte, sich auf weitere Verbrechen seelisch vorzubereiten.
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In den folgenden Weihnachtstagen sah man Don Antonio stets milde lächelnd seinem Amt nachkommen, und man hatte schon fast den Eindruck, er würde den Rummel, den die Festtagspilger verursachten, richtig genießen. Tatsächlich aber war Don Antonio nur deshalb so entspannt, weil er sich darüber im Klaren war, dass der ganze Spuk bald ein Ende haben und er ohne Ärger aus der Sache rauskommen würde. Es war also eher Eigennutz für die gute Laune des Paters verantwortlich, der sich mittlerweile nur noch wenig darum scherte, was aus Treviso werden sollte, wenn … ja, wenn er die weinende Madonna einfach verschwinden lassen würde. Denn das hatte der Pater vor: Am Silvesterabend würde er in die Kirche schleichen, die Madonna entwenden, einen Diebstahl vortäuschen und dem vatikanischen Abgesandten am 20. Januar ruhigen Gewissens sagen, dass es keine weinende Madonna mehr gebe und dass sich damit sein Besuch erledigt habe.
In der Nacht vom 31. Dezember auf den 1. Januar schlich sich Don Antonio gegen drei Uhr früh heimlich in die eiskalte Kirche, wo er sich vor der Madonna aufbaute und ihr in ihre blinden Augen sah, aus denen, nachdem der Pfarrer auf die Fernbedienung gedrückt hatte, Tropfen für Tropfen der schlechte Wein der örtlichen Enoteca rann.
Salvatore hatte die Statue wirklich vorbildlich präpariert, von dem Mechanismus im Inneren war nicht dasGeringste zu sehen. Unter einem Röntgenapparat wäre das natürlich etwas anderes gewesen, aber da ja der Abgesandte keine Statue mehr vorfinden würde, gäbe es auch keine Untersuchung, dachte Don Antonio. Seufzend zog er die kleine, unscheinbare Fernbedienung aus der Jackentasche und drückte erneut auf den Knopf. Sofort versiegten die blutroten Tränen der Madonna, die sonst in einer Schale zu ihren Füßen aufgefangen wurden, und Don Antonio schmunzelte kurz bei dem Gedanken daran, wie viel Spaß es ihm gemacht hatte, den Mechanismus vor den Messen abzustellen, nur um ihn dann zwecks einer besseren Dramatik mit einem heimlichen Griff in die Tasche seiner Soutane wieder in Gang zu setzen. Es war seine ganz persönliche Glanznummer,
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