Das Wunder von Treviso
Unangemeldet ging sie einfach in das Büro des Bürgermeisters, sparte sich jede Begrüßung und eröffnete ihm folgenden Vorschlag:
«Bürgermeister, ich schlage als Zeitpunkt Ihres Rücktritts elf Uhr Vormittag vor. Da bleibt Ihnen noch eine gute Stunde zum Packen. Ich denke, das sollte in diesem Fall ausreichend sein.»
Bürgermeister Longhi war sich nicht ganz sicher, ob er es in diesem Moment mit einer Wahnsinnigen zu tun hatte, noch dazu einer Wahnsinnigen mit weinroter Handtasche und Stützstrümpfen, aber etwas war ganz sicher nicht normal an dieser Dame.
«Wie kommen Sie darauf, dass ich von meinem Amt zurücktrete? Das ist ja lächerlich! Bei Ihrem Verhalten muss man sich ja ernsthaft fragen, was Sie gefrühstückt haben. Haha!» Und Longhi lachte ein betont spöttisches Lachen, das er für solche Gelegenheiten trainiert hatte, denn er fand, es wirke vernichtend auf seine Gegner.Tatsächlich aber klang es einfach nur lächerlich, so als übe ein drittklassiger Sänger für seinen Kurzauftritt auf einer großen Opernbühne. Bei Maria verfehlte es jedenfalls seine Wirkung vollkommen.
«Danke der Nachfrage, Signor Longhi, ich hatte heute ein Cornetto und einen kleinen Kaffee.» Sie lächelte. «Ich schlage vor, Sie fangen dann mal an zu packen.» Und dann eröffnete Maria Bürgermeister Longhi, dass er bei seinem Erpressungsversuch vorsichtiger hätte handeln sollen, denn den Brief in Castello aufzugeben sei keine besonders intelligente Tat gewesen. Da kämen ja nicht besonders viele Personen als Täter in Frage, noch dazu solche, die über einen Ausweis der Leihbibliothek von Castello verfügten und die ausgeliehenen Romane dann zerschnipselten, um sie, sagen wir mal, «anders arrangiert» wieder unter die Menschheit zu bringen. Er solle sie doch bitte nicht für so dumm halten, dass sie nicht verstanden hätte, wer der Missetäter sei, der das Lösegeld für die Madonna von Treviso erpressen wollte. Und jetzt habe er noch genau fünfundfünfzig Minuten, um seine Sachen zu packen und zu verschwinden.
Dann machte sie auf dem Absatz kehrt und ließ den vollkommen entsetzten Bürgermeister in seinem Zimmer zurück, ging auf den Wochenmarkt von Castello und kaufte dort Fenchel, Karotten und drei Bund Petersilie ein.
Emmanuele Benito Longhi bekam zuerst einen Schweißausbruch, dann eine Panikattacke und rannte anschließend mit enormem Tempo ins verwaiste Vorzimmerseiner sich im Urlaub befindlichen Sekretärin, wo er einen prallgefüllten wattierten Umschlag aus dem Safe nahm. Damit lief er weiter in den Hinterhof des Rathauses, wo er den Umschlag auf der Stelle in einem städtischen Mülleimer in Brand setzte. Sein Pech war es, dass er dabei beobachtet wurde, und zwar vom stellvertretenden Kommandanten der Freiwilligen Feuerwehr von Castello della Libertà, der in seinem zivilen Beruf Standesbeamter war und sich gerade auf eine Trauung vorbereitete, als er aus dem Fenster seines Amtszimmers sah und die pyromanischen Versuche des leicht wahnsinnig dreinblickenden Bürgermeisters bemerkte.
Geistesgegenwärtig nahm der Standesbeamte die Blumenvase vom Tisch, schmiss die darin stehenden Rosen auf den Fußboden und rannte seinerseits in den Hinterhof, wo er das Blumenwasser auf Longhis zündelnden Umschlag goss. Später hieß es sogar, der Kommandant habe den Ort vor einem Großbrand bewahrt. Danach zog er den stark verkohlten und durchnässten Umschlag aus dem Mülleimer und schaute nach, was darin war. Zu seinem großen Erstaunen offenbarte sich ihm eine angesengte und zerschnittene Ausgabe von Margaret Mitchells «Vom Winde verweht».
Keine Stunde später hatte sich die Nachricht vom Rücktritt des Bürgermeisters in ganz Castello verbreitet, und man war sich einig, dass dies nur recht und billig war, denn welches Dorf wollte schon einen pyromanisch veranlagten Faschisten zum Bürgermeister, der das Eigentum der städtischen Leihbücherei zerstörte?
Maria Braschi erwarb noch schnell ein Paar neue, schmalgeschnittene Schuhe mit dezentem Absatz, die hervorragend zu ihrem cremefarbenen Kostüm passen würden, schaute auf einen Sprung bei ihrem Schwager vorbei und machte sich anschließend in aller Ruhe auf den Heimweg nach Treviso. Sie war mit ihrem Besuch in Castello sehr zufrieden. Für die Schuhe hatte sie ganze dreißig Prozent Rabatt aushandeln können.
23
«Woher wusstest du, dass es der Bürgermeister war?»
Maria und Luigi saßen im Hinterzimmer seines Salons und tranken Kaffee, während sie ihm
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