Das Wunder von Treviso
über jedes Detail ihres Ausflugs nach Castello della Libertà Bericht erstattete. Luigi hatte sich über Marias Schilderungen sehr amüsiert, besonders als sie ihm vormachte, wie dem Bürgermeister das Gesicht entgleist war, während ihm klarwurde, dass ihn eine ältere Witwe mit Stützstrümpfen überführt hatte – was der Mann dann auch noch laut gesagt hatte. Maria war entsprechend stolz auf ihre Tat.
«Ich hab es mir einfach gedacht», antwortete sie. «Wer sonst hätte wohl ein Interesse daran gehabt, unseren Bürgermeister in Schwierigkeiten zu bringen? Und wer wäre sonst so blöd gewesen, den Erpresserbrief in den Briefkasten um die Ecke einzuwerfen? Er hätte dafürja wenigstens in eine Nachbargemeinde fahren können, dann wäre es nicht ganz so offensichtlich gewesen.»
«Und das Buch? Woher wusstest du von dem Buch?»
Da lächelte sie, lehnte sich zufrieden in ihrem Stuhl zurück und blickte ihrem Liebsten ins Gesicht.
«Es hat eine Weile gedauert, bis ich darauf gekommen bin, aus welchem Buch der Text zusammengeschnitten war. Aber Margaret Mitchells ‹Vom Winde verweht› ist der Roman, den ich Kulturbanause am häufigsten in meinem Leben gelesen habe, und das Exemplar der Leihbücherei von Castello kenne ich in- und auswendig. Ich hab nämlich mal ein Glas Wein darauf verschüttet, genau auf der Seite, auf der Rhett Butler Scarlett O’Hara ein Miststück nennt, und der Fleck war selbst im Erpresserbrief noch deutlich zu erkennen. Es gibt nur eine andere Person in Castello, die das Buch wahrscheinlich ebenso oft ausgeliehen hat wie ich, und das ist Signora Longhi, die Frau des Bürgermeisters von Castello. Die hat nämlich auch keine Kultur!» Maria lachte und kippte ihren Kaffee hinunter.
«Das ist doch gar nicht wahr», entgegnete Luigi, «du bist eine sehr kultivierte Frau. Du willst dich doch nicht etwa mit diesen, diesen …», Luigi rang um das passende Wort, «diesen Castellesi vergleichen!»
«So wie du das sagst, klingt es wie eine echte Beleidigung. Bedenke, dass ich auch eine Castellese bin. Ich habe dort lange Zeit gelebt.»
Luigi schüttelte den Kopf.
«Nein, mit diesem faschistischen Gesocks hast dunichts gemein!» Er stellte mit Nachdruck seine Kaffeetasse auf den Tisch und ergriff Marias Hand, um diese kurz und beherzt zu drücken.
«Danke! Und nun küss mich auf den Mund, und dann verschwinde ich, denn ich muss meinem Bruder noch Bericht erstatten und mir etwas überlegen wegen diesem Francesco de Renzi, der morgen kommen will.»
«Hast du nachher noch Zeit? Wir könnten zusammen zu Abend essen», schlug Luigi vor. Maria nickte. «Bis später also!»
«Ja, bis später.»
24
Lieber Giorgio,
habe gestern einen Amerikaner kennengelernt. Nächste Woche heiraten wir – in Las Vegas! Willst Du unser Trauzeuge sein?
Küsse, Tarja
PS: War nur Spaß. Las Vegas finde ich total uncool … Vermisse Dich. Berlin ist so … leer ohne Dich. Noch einen Kuss, T.
25
An diesem kalten Nachmittag im Januar legte sich eine magere Schneedecke auf Treviso und ließ die Welt ein wenig stiller werden, ganz so, als hätte man dem sonst so lauten Treiben in dem Dörflein eine kurze Atempause verordnet. Die Pilger zogen sich in ihre Quartiere zurück, die Katzen und Hunde hielten sich bevorzugt unter den – zugegeben schwach erwärmten – Heizkörpern auf, der Supermarkt war wie leer gefegt, auf dem Dorfplatz warf ein einziges Kind gedankenverloren seinen Fußball gegen die Kirchenwand und wurde weggescheucht, und der Blumenladen war heute sogar geschlossen, denn der Lieferwagen war nicht bis nach Treviso vorgedrungen, weil die Straßen so rutschig waren. Nur die Trattoria war gut besucht, und auf die Straße drangen gedämpftes Lachen und das Klirren von Geschirr.
Maria legte die letzten Schritte zum Friseursalon von Luigi vorsichtig zurück, denn das Kopfsteinpflaster war glatt, und sann über die Worte ihres Bruders nach. Der hatte sich zwar außerordentlich über den Rücktritt des Bürgermeisters von Castello gefreut, war jedoch gleich wieder in Panik geraten, als er auf den bevorstehenden Besuch des vatikanischen Abgesandten zu sprechen kam, und ließ nun seiner Angst freien Lauf. Nichts fürchtete er mehr als die Blamage, die eine peinlich genaue Untersuchung des Wunders der weinenden Madonna mit sich bringen würde. Jeder Versuch, ihn zuberuhigen, schlug fehl, und letztlich war Maria es leid und machte sich auf den Weg zu Luigi, als ihr Bruder ihr bereits beim Verlassen
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