Das Wunder von Treviso
es noch mehr als zuvor, und rissen ihm den sakralen Kitsch beinahe aus den Händen. Dazu brachte er Erfrischungsgetränke, Schokoriegel und Toilettenartikel unter die Menschheit und konnte durch die Mehreinnahmen endlich auch eine Hilfskraft einstellen, einen entfernten Neffen seines Schwagers, Nicola, der seine Sache sehr gut machte und dem Vito im Verlauf der kommenden Wochen immer mehr Aufgaben übertrug. Vito hatte zwar nicht mehr Zeit als zuvor, dennoch verbrachte er seit neuestem seine wenigen Ruhestunden vorwiegend zu Hause, und das wunderte nicht nur seine Freunde in der Trattoria.
«Warum bist du eigentlich in letzter Zeit so oft daheim?», wollte Massimo von Vito wissen, der kurz auf einen Kaffee hereingeschneit war, nur um sich drei Minuten später schon wieder vom Tresen zu entfernen und Richtung Ausgang zu hasten. Vito blieb kurz in der Tür stehen, lächelte und erklärte seinen verblüfften Freunden, dass er für ihr dummes Gerede jetzt keine Zeit habe, denn seine Anna warte auf ihn. Und damit verschwand er auch schon wieder nach draußen, während Massimo, Luigi und Mario darüber rätselten, ob er tatsächlich meinte, was er gesagt hatte.
Anna und Vito hatten sich schon immer viel gestritten, aber seitdem ihr Sohn aus dem Haus war und nur selten den Weg von Florenz, wo er Restauration studierte, nach Treviso fand, fehlte der Puffer zwischen den Eheleuten, und sie ließen ihren Frust ungehemmt aneinander aus. Die Achtung voreinander war mit den Jahren und der Erkenntnis, dass der andere auch nur ein unvollkommenes, anstrengendes und manchmal unerträgliches Wesen war, immer mehr geschwunden.
Doch seitdem Vitos Laden regelrecht boomte, war im Hause Corrisi plötzlich eine ganz ungeahnte menschliche Eigenschaft zutage getreten: die Gier. Vito und Anna gierten regelrecht nach Erfolg und dem Geld, das sie mit ihrem Familienunternehmen verdienten, und diese Gier übertrug sich letztlich auch auf alles andere.
Zuerst gierten sie nach Luxus, also mussten ein neuer Fernseher, eine neue Stereoanlage und eine Küchenmaschine her. Als das nicht ausreichte, kamen noch eine Trockenhaube, ein Hometrainer und ein ausgesprochen scheußlicher violetter Winterpelz für Anna dazu. Dann gierten sie nach Freizeit, was sie auf die Idee brachte, einen Tanzkurs zu buchen, den sie niemals besuchten, und zwei Fahrräder zu kaufen, die sie nicht benutzten. Letztlich führte es immerhin zur Festanstellung von Nicola, damit sie wenigstens im Laden etwas Entlastung verspürten. Aber dann übertrug sich ihre Gier auf etwas ausgesprochen Sinnvolles, denn ohne dass sie es erwartet hätten, gierten sie plötzlich nacheinander.
In den Jahren zuvor hatten sie kaum öfter als ein Malim Monat Sex miteinander gehabt, nicht selten war es auch weniger gewesen. Jetzt wollten sie kaum für ein paar Stunden voneinander lassen und staunten selbst am meisten darüber. Dabei stritten sie immer noch viel, nur beendeten sie den Streit nicht mehr damit, dass Vito das Haus verließ und in die Trattoria oder den Supermarkt flüchtete und Anna ihre Schwestern anrief, sondern sie trieben es zu Hause miteinander, im Keller, auf dem Dachboden, vor dem Fernseher, unter der Dusche. Dabei fiel ihnen auf, wie klein ihr unteres Badezimmer war, denn hier klappte es nur im Stehen, und das war im Grunde anstrengender, als es eigentlich sein sollte. Sie beschlossen daher, das Badezimmer zu vergrößern und, weil sie nun schon mal dabei waren, auch eine neue Küche einbauen zu lassen.
Nein, Vito konnte seinen Freunden nicht erklären, wie es dazu gekommen war, dass er und Anna einander wieder gefunden hatten. Er war bloß froh, dass es so war, und wenn es nach ihm ging, dann sollte es auch für immer so bleiben.
22
In der darauffolgenden Woche fuhr Maria nach Castello della Libertà, um Bürgermeister Longhi einen unangemeldeten Besuch abzustatten und damit den Arsch ihres Bruders zu retten. Als sie wieder abfuhr, war Longhisein Amt los, Castello hatte einen medienwirksamen Skandal vorzuweisen, und dem erpresserischen Trittbrettfahrer und vermeintlichen Madonnenentführer war das Handwerk gelegt. Das war umso erstaunlicher, bedachte man, dass sich Maria nur gute drei Stunden in Castello aufgehalten hatte, in denen sie auch noch Gemüse einkaufen gegangen war, ihren Schwager besucht und ein Paar cremefarbener Damenhalbschuhe erworben hatte.
Sie hatte den Bus um neun Uhr fünfzehn genommen und stand um exakt zehn Minuten vor zehn vor dem Rathaus von Castello.
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