Das Wunder von Treviso
des Hauses aus der Küche nachrief: «Sei ja morgen früh pünktlich um zehn Uhr zu Hause! Ich brauche dich hier, Schwester!»
Er ging offenbar selbstverständlich davon aus, dass Maria aushäusig übernachten würde, obwohl dies doch in den ganzen letzten Wochen und Monaten noch nicht ein einziges Mal vorgekommen war. Was sagte man dazu? Offenbar hatte ihr Bruder sich an ihre Beziehung zu Luigi gewöhnt. Und wie stand es mit ihr?
Luigi war gerade dabei, den Fußboden zu fegen und die spärlichen grauen Locken, die Carlotta Brasini, Ernestos Frau, bei ihm gelassen hatte, dem Mülleimer zu übereignen. Immerhin gab es seit dem Wunder der weinenden Madonna mehr Kundschaft, auch in seinem Friseursalon, und Luigi dachte über einige innovative Veränderungen bezüglich der Auslagengestaltung nach. Maria fand ihn, wie er, gestützt auf seinen Besen, nachdenklich zu seinem Schaufenster hinüberblickte.
«Wovon träumst du denn, mein Liebster?», fragte sie zur Begrüßung.
«Von dir, meine Liebste, ich träume von dir.» Er stellte den Besen weg, griff sie um die Hüften. «Schon etwas gegessen, Signora Braschi?» Als sie verneinte, holte er aus der kleinen Küche im Hinterzimmer des Salons zwei Teller mit Antipasti hervor und öffnete noch eine Flasche Wein mit den Worten: «Der ist nicht aus der hiesigen Enoteca!»
«Wie beruhigend», stellte sie fest.
«Möchtest du etwas Musik hören?»
«Gern. Was steht zur Auswahl?»
Luigis C D-Sammlung war nicht eben groß, und obwohl sich seine Kundinnen sehr wohl für Mina begeistern konnten, war dies bei Maria leider nicht der Fall. Also hörten sie Radio und plauderten, aßen und tranken, bis es immer später wurde. Fast beiläufig ließ Maria fallen, sie habe keine Eile zu gehen und könne ja vielleicht heute hier übernachten. Luigi gab sich offensichtlich alle Mühe, nicht zu überrascht auszusehen, aber es gelang ihm nicht.
«Natürlich nur, wenn das für dich in Ordnung ist», fügte sie hinzu.
«Selbstverständlich.» Er holte Luft. Er wollte etwas sagen, etwas Wichtiges. Er wollte ihr mitteilen, wie glücklich er war und dass er dies nicht für möglich gehalten hatte, nicht nach der großen Traurigkeit seiner letzten Jahre. Er wollte ihr sagen, dass er sie liebte.
«Maria …» Er sah sie an, und vor Anspannung wanderten Denkfalten über sein Gesicht.
«Ich weiß es, Luigi, ich weiß es längst.»
«Aber ich möchte es dir sagen», protestierte er.
«Später.»
Im Radio spielten sie Paolo Contes «Alle prese con una verde milonga». Sie nahm seine Hand, küsste seinen Unterarm, legte ihn um ihre Taille und verharrte so eine ganze Weile. Dann standen beide auf, umarmten sich und begannen aus der Umarmung heraus, sich sanft zuwiegen, links, rechts, links, bis daraus ein Tanz wurde, die Hände ineinandergelegt, ihr Busen an seiner Brust und ihrer beider Füße dicht dem anderen folgend. Mit der Zeit wurden sie mutiger, begannen sich zu drehen, wagten hie und da einen Ausfallschritt, verloren den Takt und begannen von neuem. So bewegten sie sich zwischen den Frisierstühlen im Halbdunkel des Salons hin und her, bis das Lied zu Ende war. Luigi stellte das Radio ab.
Im kleinen Zimmer hinter dem Salon hatte er eine alte Chaiselongue aufgestellt, denn manchmal machte er eine kurze Pause und ruhte sich dort aus, wenn gerade keine Kundinnen im Laden waren. Darauf legten sie sich nun, nachdem sie ihre Kleider ausgezogen hatten. Er fühlte ihre nackte, warme Haut, ihre Brüste.
Maria strich ihm sanft über sein Gesicht, den Rücken, den Hintern. Es war gut, den anderen zu spüren, ihm durch das Haar zu streichen, ihm den Weinatem vom Mund zu küssen. Sie schlangen Arme und Beine umeinander und liebten sich.
Später langte Luigi mit dem Arm hinüber zum Radiogerät und stellte es wieder an. So lagen sie zusammen im Dunkeln unter einer alten Wolldecke und hörten, wie es Mitternacht wurde.
Vierter Teil
1
Eine Folge des unerwarteten Rücktritts von Bürgermeister Longhi war die inoffizielle Aufhebung der offiziellen Straßensperre von Castello nach Treviso. Longhis Nachfolger war noch nicht im Amt, als die Bewohner Trevisos die Gelegenheit ergriffen und in der Nacht heimlich alle Absperrgitter, Bänder und Umleitungsschilder verschwinden ließen. Die Touristen, die trotz des Wintereinbruchs noch immer in Scharen nach Treviso pilgerten, freute dies natürlich sehr, denn nun nahm die Fahrt von Castello nach Treviso keine fünfundzwanzig, sondern nur noch
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