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Das zarte Gift des Morgens

Das zarte Gift des Morgens

Titel: Das zarte Gift des Morgens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tatjana Stepanova
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war alles ganz anders. Und das weißt du selber sehr gut.«

7
    In der Restaurantküche hing das intensive Aroma von geschmortem Fleisch. Es war schon Mittagszeit, aber das Restaurant fast noch leer. Aus dem Speisesaal waren bisher erst zwei Bestellungen für ein Mittagessen gekommen.
    Am Herd und an der Anrichte arbeitete ohne Hast ein kräftiger junger Mann in schneeweißem Kittel und hoher gestärkter Kochmütze. Über die Sprechanlage kam gerade eine weitere Bestellung aus dem Saal: »Lew, noch einmal Hammel à la Tanger.«
    »Verstanden.«
    Geschmortes Hammelfleisch war das Hausgericht des Restaurants, das jeder zweite Gast bestellte.
    In der Küche was es ruhig. Lew Saiko liebte diese fragile Stille. In wenigen Sekunden würden die Geräusche des Alltags sie zerstören: Der automatische Dunstabzug über dem Herd würde sich einschalten, im Nebenraum würde die Geschirrspülmaschine brummen, Wasser aus den geöffneten Hähnen fließen und der saftige, mit Gewürzen gesättigte Dampf zischend unter dem angehobenen Topfdeckel hervorströmen.
    Lew salzte das Hammelfleisch, legte einige große Stücke in den Schmortopf, goss Olivenöl darüber, fügte etwas schwarzen Pfeffer hinzu und stellte den Topf auf die Herdplatte. Nun kam die Sauce an die Reihe. Auf der Anrichte lagen bereits gewaschene Tomaten, Kräuter, eingeweichte Rosinen und Aprikosen.
    Ein paar Messerschläge, und die klein geschnittenen Tomaten und Kräuter wanderten zum Fleisch, um zusammen mit ihm zu schmoren. Die Aprikosen schnitt Lew ebenfalls rasch und sehr vorsichtig auf. Weiches süßes Fruchtfleisch, ein harter Kern. Wenn man ihn versehentlich beschädigte, wurde der Geschmack der Frucht durch sein bitteres Aroma verdorben. Und in der Sauce »Tanger« durfte auf keinen Fall irgendein Beigeschmack sein.
    Aus dem angrenzenden Küchenraum drangen laute Stimmen: eine männliche und eine weibliche. Lew horchte: Der Chefkoch sprach mit der Restaurantbesitzerin Maria Sacharowna Potechina. Hörte man nur oberflächlich hin, konnte man glauben, dass die beiden sich stritten, aber das war eine Täuschung. In Wirklichkeit unterhielten die beiden sich immer so – begrüßten einander, besprachen die Pläne für den Tag und lasen sich dabei unermüdlich gegenseitig die Leviten.
    »Ein alter Bock bist du«, vernahm Lew die Stimme der Chefin durch die Wand. Ihr Tonfall drückte dabei den höchsten Grad von Freundschaft und Mitgefühl für ihren Gesprächspartner aus. »Schau dich doch an, wie siehst du denn aus? Nur Haut und Knochen, ein Gesicht wie ein Toter. Meinst du, ich merke nichts? Ich bin doch nicht blind. Glaubst du, ich hätte kein Mitleid mit dir altem Narren? Entschuldige meine Direktheit, aber wenn es wenigstens eine richtige Frau wäre, eine Schönheit, für die du dich derart umbringst, aber diese kleine Rotznase!«
    Die Antwort des Chefkochs (seine Stimme klang dumpf, als käme sie aus dem Grabe) konnte Lew nicht verstehen – hinter der Wand begann schrill ein Handy zu klingeln.
    ›Ja, hallo?« Der Anruf galt Maria. »Ach, du bist das, Aurora! Sprich bitte lauter, die Verbindung ist schlecht. . . Nein, ich bin nicht im Auto, ich bin schon hier . . . Wo? In der Küche natürlich! Wo soll ich denn sonst sein?« Die Stimme der Chefin klang verwundert.
    Lew seufzte und begann leise vor sich hin zu pfeifen. Auf diese Weise versuchte er sein feines Gehör vor dem Weibergeschwätz zu schützen. Seiner Ansicht nach hatten Frauen in der Küche sowieso nichts verloren. Mit schnellen, raubtierhaften Bewegungen schnitt er die Aprikosen, legte sie in den Schmortopf mit dem Hammelfleisch und streute Zucker darüber. Dann öffnete er einen speziellen, hermetisch verschlossenen kleinen Schrank, in dem die Gewürze aufbewahrt wurden. Für das Hammelfleisch à la Tanger brauchte er die »Samt« genannte Gewürzmischung: gemahlene Nelken, Zimt und gemahlene, getrocknete Rosenknospen.
    »Aurora, ich verstehe nicht«, hörte er Marias aufgeregte Stimme. »Um Himmels willen, nun weine doch nicht gleich, erklär mir alles der Reihe nach . . . Wie?! Das kann nicht sein! Nachdem er von hier weggefahren ist? Unmöglich! Gleich nach dem Essen? Aber er hat doch . . . er hat doch gar nicht viel getrunken . . . Gesehen habe ich das allerdings nicht. . . Wieso die Miliz? Die Telefonnummer? Welche Telefonnummer? Ach, sein Handy! Hast du selber ihn angerufen? Und da war schon die Miliz dran? Nein, ich verstehe das trotzdem nicht. . .«
    Unwillkürlich lauschte Lew doch.

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